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„Ach Augenblick, verweile doch“. Temporale Wandlungsprozesse in der Gegenwart und der Verlust des Augenblicks (Abschlussarbeit, 2016)

16.01.2017

Die Künstlerin der Gegenwart und der Zauber des Augenblicks

Im Frühjahr 2010 sitzt die damals 63jährige, serbische Künstlerin Marina Abramović im New Yorker Museum of Modern Art drei Monate lang, sechs Tage die Woche, sieben Stunden pro Tag – insgesamt 716 Stunden und 30 Minuten – bewegungslos auf einem Stuhl und ebnet dem Besucher den Weg zu einem Augenblickserlebnis. Der ihr gegenüberstehende Stuhl ist leer. Der Besucher erhält die Gelegenheit, auf diesem Platz zu nehmen und die Künstlerin so lange anzuschauen, wie er oder sie das möchte. Nach jedem dieser manchmal eine Viertelstunde dauernden Augenblicke senkt die in ein mönchsartiges Kuttenkleid gehüllte und die Aura einer Heiligen verströmende Künstlerin den Blick und hebt ihn erst dann langsam wieder, wenn die nächste Person Platz genommen hat. Diese Performance widersteht der sich selbst vorantreibenden Rastlosigkeit des gegenwärtigen Lebens mit einer Kunst, die Langsamkeit, Kontemplation und die Bedeutung des Gegenwärtigen zelebriert. 750.000 Menschen wollen an diesem unspektakulären Spektakel teilhaben: Über 1.500 Kinder und Greise, Weiße und Schwarze, Arme und Reiche, Atheisten und Geistliche, Prominente und einfache Bürger erleben ihren Augenblick. Die Reaktionen sind erstaunlich: Während Abramovićs Blick bis auf eine gelegentliche, sehr dezente Güte regungslos bleibt, präsentieren die Gesichter der Besucher die gesamte Palette menschlicher Gefühlsregungen: Angst, Gelassenheit, Hoffnung, Irritation, Neugier, Skepsis, Trauer, Unbehagen, Wohlwollen, Wut. Nicht wenige weinen. Was ist geschehen?

Sind es die hinter ihrem Blick liegende Energie und Tiefe eines erfüllten und selbstbestimmten Lebens voller Intensität und existentieller Grenzerfahrungen, die die Menschen beunruhigen? Ist es die Kraft der Gegenwart? Ihres Blickes? Ist es die ungewohnte Aufmerksamkeit – das Gefühl von Anerkennung? Sehen die Menschen in ihr ihre eigenen verborgenen Emotionen, ihren noch nicht konkretisierten Lebenssinn? Ist es der Sog der Gravitation des von ihr geschaffenen charismatischen Raumes, eines kleinen Augenblickskorridors im Universum, der sich aus Kontemplation und Reflexion speist?

Wer sich etwas intensiver mit der Künstlerin auseinandersetzt, erlebt eine Frau, die von Anfang an einer zunächst noch diffusen Idee gefolgt ist, welche sich im Laufe der Jahrzehnte zu ihrem eigenen Lebensthema entfaltet hat. Marina Abramović blickt auf ein langes, impressionsgesättigtes und fokussiertes Leben zurück, das zudem von Beharrlichkeit und Autonomie geprägt ist. Auf dieser Basis ist sie auf facettenreiche Weise gegenwärtig. Die Künstlerin beeindruckt mit ihrer außergewöhnlichen psychischen und physischen Präsenz, mit einer stark ausgeprägten Integrität, die sie im Hier und Jetzt verankert sowie mit performativer Kunst, die nur im Moment der Aufführung existiert. Gegenwärtigkeit ist das Zauberwort in einer Zeit, die nur in die Zukunft zu blicken scheint. Nur wer in der Gegenwart lebt, kann Präsenz zeigen und wird sichtbar. Wer präsent ist, kann sehen. Wer sehen kann, erkennt.

In dieser Arbeit widme ich mich auf der Basis der Hypothese, dass temporale Wandlungsprozesse einen Augenblicksverlust herbeigeführt haben, folgender Frage: Welche Konsequenzen hat dieser Verlust für das Individuum – auf sinnlicher, kognitiver, psychischer und der Handlungsebene? Nach einer kurzen Geschichte des Augenblicksbegriffs (2.1) widme ich mich im ersten, sehr deskriptiv gehaltenen Hauptkapitel den Augenblickskonzeptionen von Søren Kierkegaard (2.2), Karl Jaspers (2.3) und Martin Heidegger (2.4). Im Anschluss reiße ich als Brücke zum zweiten Themenblock kritische Positionen der drei Philosophen hinsichtlich ihrer jeweiligen Zeit (3.1) an. Daran anschließend folgt die Beschreibung verschiedener Typen temporaler Wandlungsprozesse (3.2), deren Gemeinsamkeit die Verunmöglichung des Augenblicks darstellt. In Kapitel 4 – dem Herzstück der Arbeit – stehen die individuellen Konsequenzen temporaler Wandlungsprozesse im Fokus, die auf verschiedenen Ebenen wie Sinnlichkeit, Kognition, Psyche und Handlung Ausdruck finden. Diese Dokumentation versteht sich auch als Fortführung bzw. Intensivierung der in Kapitel 2.2 bis 2.4 mit dem Augenblick verbundenen Begriffe Angst, Existenzerhellung und Handlung. Die Abschnitte 5.1 bis 5.3 verbinden die Augenblickskonzepte von Kierkegaard, Jaspers und Heidegger mit den Konsequenzen der Beschleunigungsprozesse und münden zugleich in einen Ausweg, der in Kapitel 5.4 eine Konzentration erfährt. In Kapitel 5.5 und 5.6 resümiere ich die Ergebnisse der Arbeit, verweise auf ihre Grenzen und gebe einen Ausblick auf mögliche thematische Anknüpfungspunkte.

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Resümee: Der Augenblick als Wegweiser zur Selbstentfaltung

Ausgehend von der These, dass temporale Wandlungsprozesse in der Gegenwart einen Augenblicksverlust herbeiführen, hat am Anfang der Arbeit die Frage gestanden: Welche Konsequenzen hat dies für das Individuum? Zu Beginn wird der Augenblick als philosophisches Konzept als ein Moment der Öffnung und des Übergangs dargestellt und bildet so den Ausgangspunkt eines für das Individuum konstitutiven Prozesses. Der Augenblick stößt dem Menschen ein Fenster in die Zukunft auf und lässt ihn auf seine Möglichkeiten blicken. Auf dieser Grundlage haben Kierkegaard, Heidegger und Jaspers ihre eigenen Konzeptionen entworfen. Bei Kierkegaard bedingt der Augenblick das Verstehen-können von Ewigkeit im Sinne eines Unvergänglichen, weil der Augenblick etwas setzt, das bleibt. Um sich selbst oder das Ewige zu begreifen, muss der Mensch an eine Grenze stoßen – in Kierkegaards Konzept als Angst. Im Moment der Angst konzentriert sich alles auf einen Punkt höchster Intensität – den Augenblick. Der Augenblick verbirgt etwas, das der Mensch erkennen kann, wenn er es bereits beherbergt. So bietet er die Chance, die eigenen Möglichkeiten zu identifizieren. Bei Jaspers erscheint der Augenblick als konkrete Gegenwart. In ihm wohnt die Unendlichkeit, die es dem Menschen erlaubt, sich aus den Fängen der Rationalität zu befreien. Der Augenblick als Lebendigkeit in höchster Konzentration ermöglicht die Erkenntnis von Totalität und führt im Idealfall zum Wirken und Walten einer hypothetischen (Gedanken-)Ordnung, die den Weg zur Selbstentfaltung ebnet. In einer früheren Konzeption entspricht dem Augenblick bei Heidegger die Entschlossenheit als Bedingung für ein Handeln. Zuvor schafft die Angst eine Stimmung für einen Entschluss, der über einen Sprung in die Entschlossenheit mündet. Später stellt er den Augenblick als etwas dar, das den Zeitbann der Langeweile bricht. Der Augenblick als eine Variation der Zeit verhilft zur simultanen Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Nach einer kurzen Illustration gegenwartskritischer Positionen der drei Philosophen und dem damit verbundenen expliziten Hinweis, dass schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Entscheidungsschwäche oder Diskontinuitäten Charakteristika des Durchschnittsmenschen gewesen sind, folgt die Darstellung verschiedener Typen temporaler Wandlungsprozesse. Den Anfang macht Virilios Rasender Stillstand als Beschreibung eines Zustands, in dem vor lauter Bewegung nichts mehr fließt. Bereits vor 25 Jahren macht der französische Denker auf die Macht der Bildschirme und Fernbedienungen aufmerksam und diagnostiziert einen auf der Stelle stehenden, individualisierten, die Umwelt kontrollierenden Menschen, der in ein technisches Koma fällt, weil er die von ihm geschaffene elektronische Architektur längst verinnerlicht hat. Dies führt unter anderem zu regressiver Wahrnehmung, einem mürben Selbstbewusstsein und vorzeitigem (geistigem) Altern. Hartmut Rosa beschreibt mit dem Terminus Beschleunigung eine „Mengenzunahme pro Zeiteinheit“. Er macht in erster Linie auf die Tatsache aufmerksam, dass die häufigste Art der subjektiven Temposteigerung nur entsteht, weil das Individuum die durch Rationalisierung und technischen Fortschritt neu gewonnene Zeit sofort wieder in neue Projekte investiert, anstatt die vorangegangenen zu reflektieren – oder die Zeit zu genießen. Beschleunigung führt primär dazu, dass den für die individuelle Entwicklung wichtigen psychischen Vorgängen wie Wahrnehmung, Erfahrung oder Reflexion kein Platz mehr eingeräumt werden kann. Eine Konsequenz der Beschleunigung ist die Simultanität bzw. Vergleichzeitigung: Sie verwischt die Grenzen zwischen Systemen und resultiert in Nivellierung und Hybridisierung. Dies gilt auch für die Echtzeit, die vor allem Tiefenwirkung verunmöglicht. Der Philosoph Byung-Chul Han setzt Rosas Beschleunigungskonzept den Begriff des Atomismus entgegen. Die atomisierte Zeit resultiert aus der Beschleunigung. Ein fehlender systematisierender Rhythmus führt zu einer Dsychronie. Die Zeit ist aus dem Takt geraten.

Die gegenwärtige Chronodiversität kann zu einer Reihe von Konsequenzen für diejenigen Individuen führen, die durch die temporalen Wandlungsprozesse von sich selbst fortgerissen werden und in ihrer Folge orientierungslos durch die Welt taumeln. In einem ersten Schritt werden die sinnlichen Fähigkeiten in Mitleidenschaft gezogen. Als Folge der Entsinnlichung leiden auch die kognitiven Fähigkeiten wie Wahrnehmen oder Denken und steuern mittels Fragmentierung und De-Kontextualisierung auf Abstumpfung, Desinteresse, Steuerungsverlust und Anpassungsverhalten zu. Dies führt auf der nachfolgenden Ebene der Psyche bzw. Identität zum Unvermögen der Selbsterkenntnis. Die Erfahrung gerät ebenso in den Hintergrund wie die darauf aufbauende Entwicklung. Angst, Realitätsverlust und Depressionen sind die gravierendsten Folgen der Temposteigerung. Schließlich geht diese Entwicklung auf der Handlungsebene in eine Starre oder Ohnmacht über, die jegliche Selbstgestaltung unterminiert.

Im Anschluss an die Darstellungen der individuellen Konsequenzen hat sich erwiesen, warum die temporalen Wandlungsprozesse den Augenblick in den Konzeptionen von Kierkegaard, Jaspers und Heidegger – als Verstehen von Ewigkeit, als konkrete Gegenwart sowie als Entschlossenheit – verunmöglichen. Es hat sich gezeigt, dass allen drei Denkern ein ähnliches Konzept als Ausweg aus der Unfähigkeit zum Augenblickserleben vorschwebt: die Identifikation mit etwas oder jemandem und eine daraus resultierende Identität. Wer sich von der Angst prägen oder vom Denken erhellen lässt oder die Kraft des Leerlaufs genießen lernt, wird weiterhin Augenblicke erleben und sich bereitmachen können – für den nächsten Sprung.

Der Augenblick ist der Versuch, „die Zeit anzuhalten“, (1) heißt es bei Kierkegaard. Die Fähigkeit, den Augenblick zu bemerken, zu erfahren und ihn als Sprungbrett in einen konstitutiven Möglichkeitsraum zu gebrauchen, ist die Bedingung für die Bildung einer Identität. Vielleicht ist dies der Grund, warum Marina Abramovićs Augenblicke – als Konzentrat ihrer Identität – eine so kraftvolle, emotionale Wirkung auf die Zuschauer gehabt haben. Die ihr gegenübersitzenden Personen haben in das kleine Fenster geschaut, das ihnen den Blick auf etwas (bislang Unverborgenes) freigegeben hat, das sie sind: ein Blick in die Ewigkeit, in das bis zum Tode Fortwährende des eigenen Selbst.

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(1) Søren Kierkegaard (2015). Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. München: dtv, S. 546.


Bei Interesse schicke ich den Volltext gern per Email zu (siehe Kontakt).