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Lyrik ist tot – Es lebe das Gedicht!

27.08.2010

Warum das Gedicht im 21. Jahrhundert kaum noch eine Rolle spielt, die Hoffnung, dass es wieder an Bedeutung gewinnt, aber noch nicht gestorben ist.

Schon vor 20 Jahren hat der deutsche Schriftsteller und Lyriker Robert Gernhardt in seinem Buch „Gedanken zum Gedicht“ verschiedene Gründe ausgemacht, warum das Gedicht der Gegenwart unter einer „gedichtsspezifischen Strukturschwäche“ leidet und deshalb in den Tiefen der menschlichen Wahrnehmung verschwunden ist. Diese Gründe sind: das Image der Lyrik, ihre Verbreitungsform, ihre Inhalte sowie ihre Qualität.

Das Image der Lyrik

Der Ruf der Lyrik in der heutigen Zeit ist sicherlich von den Erinnerungen an quälende Gedichtinterpretationen während der Schulzeit getrübt. Zweitens widersetzen sich die immer privater gehaltenen Gedichte der Gegenwart dem ursprünglichen Zweck der Lyrik: kollektive Erfahrungen verdichtet darzustellen. Zudem werden Gedichte kaum noch gelesen. Das Meinungsforschungsinstitut „polis“ publiziert 2005 eine Studie, die sich dem Verhältnis der Deutschen zur Lyrik widmet. Die Ergebnisse: Über die Hälfte der Männer und über 40% der Frauen haben sich „schon länger“ nicht mehr mit Gedichten auseinandergesetzt oder haben überhaupt keinen Kontakt gehabt. Bei den 20- bis 29-jährigen hat nur etwa jeder Dritte in der Vergangenheit Lyrik gelesen.

Die Verbreitungsform der Lyrik

Immer mehr Verlage entfernen Poesie aus ökonomischen Gründen aus ihrem Angebot. Im letzten Jahr sind weniger als 2% der Neuveröffentlichungen in Deutschland auf Drama, Essay und Lyrik gefallen. Lyrik findet sich nur noch in oftmals teuren und selten nach einem Konzept gestalteten Anthologien. Selten wird ein Gedicht in Tageszeitungen und Kulturzeitschriften abgedruckt, so wie dies besonders in der Weimarer Zeit gang und gäbe war. Wer nicht aktiv nach Lyrik sucht, wird nicht ohne weiteres auf sie stoßen.

Die Inhalte der Lyrik

Robert Gernhardt kritisiert am Gedicht der Gegenwart, „dass der viele weiße Raum nicht dazu dient, sprachlicher, emotionaler oder intellektueller Essenz den gebührenden Platz und Rahmen zu geben, sondern […] missbraucht wird, um ziemlich privaten Kurzmitteilungen von erheblicher Nichtigkeit größtmöglichen Respekt zu erschleichen“. Der postmoderne Lyriker scheint das Handwerk verlernt zu haben. Der Stil der Gegenwart zeichnet sich durch eine bunte Melange aus Elementen früherer Epochen aus. Außerdem werden heutzutage in erster Linie hermetische Alltagsgedichte verfasst. Außer dem Verfasser finden keine anderen Personen Zugang zu den Zeilen, weil ihnen die dahinter liegenden Erfahrungen fehlen. Im Vormärz, im Barock oder in der Nachkriegslyrik spielen das gemeinsame Erleben der dargestellten Themen, mit denen sich viele Leser identifizieren können, noch eine große Rolle. In einer individualisierten Welt, in der gemeinsam erlebte Ereignisse und kollektive Erfahrungen schwinden, taugt das Gedicht nicht mehr als Verdichtung des gemeinschaftlich Erfahrenen.

Die Qualität der Lyrik

Auch hier bleibt Gernhardt kritisch und beanstandet, dass der Lyriker des späten 20. Jahrhunderts von den „tradierten Redeweisen und Gedichtformen“ wenig Gebrauch macht, sondern sich den zufälligen Zeilenbruch aneignet und lediglich Profanes darstellt. Das Alltagsgedicht ist an die erste Stelle getreten. Tragische, euphorische, tiefgründige oder einfach nur ästhetische Gedichte sind kaum noch zu finden.

Doch ist das Gedicht wirklich tot?

Das Dogma Adornos, dass es barbarisch ist, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“ haben ganz besonders Paul Celan mit seiner „Todesfuge“, aber auch Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, Enzensberger & Grass, Erich Fried, die Konkretisten und viele andere widerlegt.

Unsere Zeit scheint einfach keine der Lyrik zu sein, was der massive Einbruch im Programm der Verlage als auch die geringe Lyrikrezeption vermuten lassen. Aber das kann sich ändern! Erstens haben sich in den letzten Jahren Lyrik-Wettbewerbe, sog. Poetry-Slams, etabliert. Auch Gedichtdatenbanken im Internet sind inzwischen in großer Zahl zu finden. Das Gedicht, eine Verdichtung von Sprache, kann im Internet, z. B. beim Kurznachrichtendienst Twitter wieder neu belebt werden. Neue Kunstgenres können durch die Vermischung mit anderen Formen (Alltagsgegenständen, Video und Fotografie) entstehen, wie dies die Künstlerin Susann Körner zum Beispiel mit Kassenbon-Lyrik, Textfragmenten und Collagentexten zeigt.

Wie kann das Gedicht wiederbelebt werden?

Die Entwicklung neuer Formen, die Identifikationspotential haben, kann das Gedicht wieder beleben, wenn die Lyrik es schafft, die Probleme der heutigen Zeit auf den Punkt zu bringen. Individualisierung, Ökonomisierung, Rationalisierung oder Sprachverknappung können mit einer Sprache, die genau diese Aspekte widerspiegelt, behandelt werden – nicht nur inhaltlich sondern auch in ihrer Gestaltung. Kleine, aber feine Literaturzeitschriften und auf Lyrik spezialisierte Kleinstverlage können es sich zur Aufgabe machen, die Qualität der Lyrik zu fördern und den Sprachkritikern entgegen zu treten. Anglizismen und Denglisch sowie die von Migrantenslang, Codes und Kargheit geprägte Jugendsprache sind nicht nur Symptome unserer Umgangssprache, sondern machen auch vor der Lyrik nicht halt. Dies sollte in erster Linie nicht nur kritisiert, sondern auch genutzt werden. Überall dort, wo man sich kurze Wartezeiten vertreiben muss, in der U-Bahn, im Wartezimmer eines Arztes oder in der Schlange im Supermarkt ist das Gedicht, auch wenn es an „Strukturschwäche“ leidet, das passende Häppchen Literatur: zur Unterhaltung, Reflexion und Gedankenanregung. Des Weiteren können Kindergärten, Vor- und Grundschulen mit Reimen und Gedichten Kindern, vor allem auch solchen mit Migrationshintergrund, die deutsche Sprache spielerischer beibringen und gleichsam das Bewusstsein für das Dichten entwickeln.

Lyrik zum Hören

Und wer keine Lyrik lesen möchte, kann sie nun auch hören. Der Hörverlag hat im letzten Jahr nach mehr als fünf Jahren Recherchearbeit die „Lyrikstimmen: Die Bibliothek der Poeten“ zusammengestellt. 122 Lyriker und Lyrikerinnen lesen 420 ihrer Gedichte selbst. Dieses Zeugnis deutscher Dichtung ist nicht nur inhaltlich ein Juwel, sondern auch ein vielseitiger Spaziergang durch die schönsten und schrecklichsten Erlebnisse ihrer Autoren. Diese Sammlung zeigt vor allem, wie sehr sich Literatur binnen eines Jahrhunderts verändern kann und vielleicht auch muss. Wenn sich die Lyrik der Gegenwart an die neuen Kommunikationsformen des 21. Jahrhunderts anpasst, kann auch sie weiterleben.