18.01.2011
Was Kunst ist oder was den Künstler zum Künstler macht, gehört zu den großen Fragen der Ästhetik. Philosophen von Kant über Hegel bis Adorno oder Heidegger haben umfangreiche Theorien vorgelegt. Aber auch jeder normale Galerien- oder Ausstellungsbesucher wird sich diese Fragen sicherlich schon einmal gestellt haben. Entweder, weil diese Person das Werk eines Künstlers nicht als Kunst empfand oder weil sie vom idealisierten Künstlerdasein fasziniert ist. Das Bild des Künstlers ist verklärt oder wird bisweilen sogar abgewertet. Wenn jemand von einem „Überlebenskünstler“ spricht, ist das durchaus anerkennend gemeint. Von der Ratio diktierte Erfolgsmenschen benutzen Begriffe wie „Künstlerpack“ mitunter abfällig. Zur Natur des Künstlers gehören Andersartigkeit, ein Sinn fürs Schöne, Aufrichtigkeit, die Beherrschung seines Handwerks sowie Konzentration.
In mehreren Teilen nährt sich die Serie der Frage an, was den Künstler zum Künstler macht. Im ersten Part kommen Künstler selbst zu Wort. Schaut man sich genauer an, was die Kreativen (unter ihnen auch Schriftsteller, Dichter und Philosophen) über sich selbst sagen, entstehen bald einige Thesen:
1) Abweichung: Künstlertum zeichnet sich durch eine Andersartigkeit aus, eine Differenz von der Norm, das Hören auf die innere Stimme oder spielerische Unkonventionalität, die auch anarchistische Züge tragen darf. Dies machen die folgenden Stimmen deutlich:
Der irische Schriftsteller und Lebemann Oscar Wilde glaubt, dass der Künstler der einzige Mensch [ist], der nie ernsthaft ist, obwohl die Kunst das einzig Ernsthafte auf der Welt ist. Und weil die Kunst ernsthaft (also aufrichtig, bedeutungsvoll und ehrlich) genug ist, ist die beste Regierungsform für den Künstler keine Regierung. Freiheit steht im Vordergrund. Und noch etwas weiß der wilde Ire über den großen Künstler. Er sieht die Dinge niemals so, wie sie sind, denn wenn er sie so sähe, wäre er kein Künstler mehr. Der britische Autor Chesterton unterscheidet den guten vom schlechten Künstler. Der eine ist jener, den man verstehen kann, der andere, der immer missverstanden wird. In diese Kerbe schlägt auch der österreichische Schriftsteller & Aphoristiker Alfred Polgar, der meint, dass der Kritiker den Künstler, den er nicht versteht, das fühlen lässt. Und der Künstler wiederum, so Wilhelm Busch, fühlt sich stets gekränkt, wenn’s anders kommt, als wie er denkt. Die deutsche Dichterin Else Lasker-Schüler ist der Überzeugung, dass sich ein Künstler nicht nach der Uhr richten darf, sondern nach dem Zeiger des Universums. Ganz ähnlich argumentiert der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, der denkt, dass der Künstler […] die Augen vor der äußeren Welt verschließt und den Blick auf die subjektiven Landschaften seiner Seele wendet. Der Beatnik William S. Burroughs sieht es poetisch: Die Funktion des Künstlers besteht darin, die Erfahrung eines überraschten Erkennens wachzurufen, also den Betrachter auf etwas Unbewusstes aufmerksam zu machen. Heinrich Laube, deutscher Schriftsteller und Dramatiker, spricht dem wahren Künstler Eitelkeit zu, während Marilyn Manson, Enfant terrible der zeitgenössischen Rockmusik, im Künstler einen Provokateur sieht. Andernfalls wird er unsichtbar. Und während viele Menschen in Bewerbungsschreiben ihre Problemlösungskompetenz preisen, ist der Künstler einer, so das österreichische Multitalent Karl Kraus, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.
2) Stilgefühl: Der Künstler benötigt die Gabe zur Schöngeistigkeit und Ästhetik, zur Leichtigkeit und Sinnlichkeit, zum kindlichen Blick auf die Dinge sowie eine Neigung zum Philosophischen wie folgende Künstler glauben:
Ulysses-Schöpfer James Joyce sieht in der Aufgabe des Künstlers die Erschaffung des Schönen. Kunst ist eine Art von Leichtigkeit, im Gegensatz zur Philosophie, die schon ernst macht, wo der Künstler noch spielt, so Rechtsphilosoph Carl August Emge. Die Verbindung zwischen Kunst und Philosophie knüpft auch der deutsche Dichter und Dramatiker Zacharias Werner, denn ein Künstler ist seiner Meinung nach nicht nur charmanter Gesellschafter oder Lebensphilosoph, sondern auch Priester des Ewigen. Mark Rothko, Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus, sieht dem bildenden Künstler nur zwei gleichwertige Berufe: dem des Dichters und des Philosophen. Sie alle verfolgen das gleiche Ziel und wollen ihr Verständnis der Wirklichkeit so konkret wie möglich zum Ausdruck bringen. Für die deutsche Malerin Paula Modersohn-Becker braucht der Künstler nur Sinnlichkeit bis in die Fingerspitzen. Adalbert Stifter attestiert den höchsten Künstler[n] der Welt die lieblichste kindlichste Naivetät, die in ihrem Idealismus demütig sind. Der wahre Künstler, so glaubt er, stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht.
3) Integrität: Die obersten Gesetze des Künstlers sind Moral und Wahrhaftigkeit. Diese müssen nicht bis in jede kleinste Handlung hineingreifen, aber im Großen und Ganzen sollten die Handlungen des Künstlers mit seinen idealistischen Anschauungen übereinstimmen. Diese Konsistenz gelingt vor allem auf der Basis der Stimmigkeit der eigenen Persönlichkeit.
Zacharias Werner ist der Meinung, dass der Mensch die Moral einsehen und respektieren muss. Der Künstler muss zwar nicht zwingend moralisch sein, darf sie in seinem Kunstwerk allerdings nicht verletzten. Wer bislang geglaubt hat, dass Künstler zu den Gesetzlosen gehören, wird von Gilbert Keith Chesterton eines Besseren belehrt: Es ist unmöglich, Künstler zu sein und dabei Schranken und Gesetze nicht zu achten. Die Kunst ist Begrenzung; zum Wesentlichen eines Bildes gehört der Rahmen.
4) Handwerk: Mark Rothko glaubt, dass der Künstler so viel Kunstfertigkeit braucht, wie erforderlich ist, um sein konkretes Ziel zu erreichen.
5) Konzentration: Ein Künstler braucht ein Mindestmaß an Konzentration, die Fähigkeit, tief in sich zu dringen, die Achtsamkeit, auch Details wahr zu nehmen, aber auch Beharrlichkeit und Ausdauer sowie die Begabung zur Andacht.
Der deutsche Arzt Aloys Greither sieht in Mozart den Künstler par excellence […]: von seinem Werk besessen, dabei naiv und unbewußt seiner Schöpferkraft anheimgegeben, alles um sich herum vergessend oder nur als Kulisse seines künstlerischen Daseins wahrnehmend. Es ist ein verbreiteter Irrglauben, dass ein Künstler 24/7 kreativ ist und ständig mit seinen Gedanken in den Blattspitzen hängt. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig weiß: [A]lles Wesentliche, alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration. Auch der deutsche Dadaist und Surrealist Max Ernst spricht vom Märchen vom Schöpfertum des Künstlers.
Der Mensch braucht zur künstlerischen Genese also erstens den Mut, gängige Konventionen zu übersteigen, zweitens einen gut ausgeprägten Sinn für Schönheit und Ästhetik, drittens ein Gespür für moralisches Verhalten, viertens eine solide, handwerkliche Ausbildung sowie fünftens die Fähigkeit zur Konzentration. Diese Begabungen und Kenntnisse irgendwann sein eigen zu nennen, ist oft das Ergebnis eines langen, oft auch schmerzhaften Entwicklungsprozesses. Viele bekannte Künstler sind auf dem Weg zur Berühmtheit oft steinige Pfade gegangen – der Weg ist das Ziel und es wird sich noch zeigen, dass dieser Weg oft mehr Abzweigungen als schnurgerade Wege enthält.