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Es ist nie zu spät, zu werden, was man ist: Henri Rousseau

10.08.2010

Vor 100 Jahren stirbt der Wegbereiter des Surrealismus Henri Rousseau, der seine künstlerische Berufung erst in der zweiten Hälfte seines Lebens findet.

Bis zur Hälfte seines Lebens sieht es nicht so aus, als würde aus dem Steuerbeamten und ehemaligen Soldaten einer der wichtigsten europäischen Maler der Moderne werden. Henri Rousseau (1844-1910) ist ein mäßig bis schlechter Schüler und bricht die Schule später ab. Nach dem Militärdienst schlägt er eine Laufbahn als Gerichtsvollzieher und Steuerbeamter ein und beginnt erst mit 35 Jahren, zu malen. Nur wenige Jahre später lässt er sich pensionieren, um sich ganz auf die Malerei konzentrieren zu können und gründet sogar mit bereits über 50 Jahren eine Kunstschule in Paris. Der wohl bedeutendste Maler des 20. Jahrhunderts, Pablo Picasso, adelt ihn mit den Worten: „Genau besehen, sind wir, Du und ich, die größten Maler“.

Der Franzose Rousseau ist ein künstlerischer Autodidakt, der sich schon als Kind für Musik und Dichtung interessiert und bereits während seiner Berufslaufbahn zeichnet und Alltägliches aufs Papier bringt. International berühmt wird Rousseau mit seinen afrikanisch beeinflussten Dschungelbildern aus der Jahrhundertwende, in denen er uns einen Blick in exotische Landschaften und fremde Welten voller Geheimnisse öffnet. Ein näherer Blick auf das bekannteste Bild dieser Serie „Der Traum“ lohnt sich, um dem Rätsel von Rousseaus Unkonventionalität und Bedeutung etwas näher zu kommen.

„Der Traum“

Auf dem etwa 2 mal 3 Meter großen Bild ist auf der linken Seite eine nackte, auf einem Sofa liegende Frau zu sehen. Dieses Bild schließt einerseits an die Tradition der Aktdarstellung der Venus an. Andererseits kann hier auch ein Bezug zu Sigmund Freud hergestellt werden, dessen Couch Weltberühmtheit erlangt hat. Dieser beschäftigt sich zu dieser Zeit ebenso mit „primitiven“ Kulturen und fasst seine Erkenntnisse 1913 mit der Schrift „Totem und Tabu“ zusammen. Die nackte Schöne, auf einem Sofa liegend, positioniert Rousseau nun inmitten eines Urwaldes. Im Dickicht der mehr als 50 Grüntöne starren uns Tieraugen an, exotische Pflanzen umranken sich und in der Mitte des Bildes spielt ein Eingeborener eine Flöte. Rousseau selbst ist Klarinettist. Die Frau, die einen zugleich skeptischen als auch träumerischen Gesichtsausdruck hat, zeigt in die Tiefe des Urwalds. Ihre Nacktheit symbolisiert das Ursprüngliche, das Reine des Menschen und zeigt eine Sehnsucht nach der Maxime seines Namensvetters Jean-Jacques Rousseau „Retour à la Nature“: Eine Natur, die sich über das gesamte Bild erstreckt und durch die Nuancenvielfalt der Farbtöne eine Tiefe erhält, das den Urwald noch geheimnisvoller macht. Die Atmosphäre des Bildes ist fast poetisch. Man scheint ein Rascheln der Blätter zu vernehmen, leise Flötentöne fließen durch das dichte Grün, exotische Vögel rufen und von fern tönt das Brüllen der Löwen. Dies zieht den Betrachter in das Bild hinein und umfängt ihn mit Rätseln und Geheimnissen. Genau dieses Rätselhafte zeigt sich als wesentlicher Einfluss auf die Surrealisten wie Dalí, Magritte oder Miró, die ab etwa 1920 das Ziel formulieren, mit der Malerei Illusionen, Träumen und dem Unbewusstsein auf den Grund zu gehen.

Die Authentizität des Künstlers

Sein Werk spiegelt das Ursprüngliche des Daseins vielleicht deshalb so authentisch wieder, weil Rousseau nie eine Akademie besucht hat und intuitiv künstlerisch tätig ist. Sein Wunsch, zu malen, wächst seit seiner Kindheit langsam heran und führt letzten Endes zu einer Entscheidung für ein Leben mit der Kunst und nur mit ihr. Sein Bruch mit den Konventionen der damaligen Malerei, sowohl hinsichtlich der Ausbildung als auch der Ausübung, macht ihn zum Wegbereiter nicht nur des Surrealismus, sondern ebenso auch des Kubismus und Expressionismus. Die Elemente seiner Bilder sind durch eine starke Vereinfachung charakterisiert. Viele seiner Bilder („Die Hochzeit“, 1904/05 oder „Die Muse inspiriert den Dichter“, 1909) zeichnen sich durch die Darstellung von Alltäglichkeiten aus, verbunden mit dem Thema Natur. Die Figuren sind oft in frontaler Sicht oder im Profil zu sehen und heben sich durch scharfe Konturen und starke Kontraste vom Hintergrund ab.

Rousseaus Malerei ist naiv, aber sie ist ebenso authentisch wie das Leben selbst, das in erster Linie aus Alltag besteht. Rousseau nimmt diese Alltagsgeschichten einerseits auf, entflieht dem gewöhnlichen Einerlei aber andererseits durch seine Dschungelbilder, die eine Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen und Eleusinischen darstellen und hervorrufen. Rousseau ist Realist und Träumer gleichermaßen und ein schönes Beispiel dafür, dass es für die Ausübung unterdrückter Interessen nie zu spät ist.

Es bleibt immer Zeit, zu träumen

Im 21. Jahrhundert neigt der Mensch als Mitglied einer in erster Linie ökonomisch geprägten Gesellschaft leider immer häufiger dazu, sich bei der Berufswahl von monetären oder Anerkennung generierenden Aspekten leiten zu lassen. Rousseau hat nicht nur ein künstlerisches Erbe hinterlassen, seine Biographie scheint uns ebenfalls zuzurufen: Es ist nie zu spät, zu werden, was man muss.