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Kommunikative Fremdheit

10.08.2010

Welche kommunikativen Bruchstellen, die zu Fremdheit führen, können beim Individuum entstehen?

Fremdheit und Kommunikation sind Begriffe, die wohl zu keiner Zeit gegenwärtiger gewesen sind als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie begegnen uns alltäglich in mannigfaltiger Weise und sind zum wesentlichen Bestandteil unserer Kultur, vielleicht sogar zur Kehrseite der Modernisierungs- und Globalisierungstendenzen geworden. Durch die Medien, hier im Speziellen das Fernsehen, gelangen fremde Kulturen in unsere Wohnzimmer. Gleichermaßen steigen auch die Kommunikationsanforderungen. Die Tatsache, dass weniger Zeit für die intensive Auseinandersetzung mit dem Anderen bleibt, fordert seinen Tribut und kann zu Fremdheit und mangelnder Kommunikation führen. Die Verknappung und Entsymbolisierung der Sprache, die in vielen Bereichen nur noch funktional erscheint, hervorgerufen in erster Linie durch die digitalisierten Kommunikationsformen wie Mobilfunk, SMS und Internet, entfernen die Menschen voneinander – und von sich selbst.

Fremdheit und Kommunikation kommen gleichermaßen von außen wie von innen. Der Übergang vom Zeichen (einem Grundelement der Sprache, das auf etwas hinzeigt) zum Symbol (also einem Bedeutungsträger, der eine Vorstellung von einem Ding gibt) kann eine Reihe von Konflikten produzieren, die für das Entstehen einer Fremdheit verantwortlich sein können. Der komplexe Sprachbildungsprozess findet erstens auf verschiedenen Bewusstseinsstufen, vor allem dem Fühlen, Denken und Sprechen statt. Der Übergang innerhalb dieser Ebenen ist ein vielschichtiger, sensibler Transformationsprozess, der durch eine Vielzahl von psychologischen und gesellschaftlichen Einflüssen sehr leicht gestört werden kann. Zweitens führt der Prozess der Sprachbildung über eine Reihe von Stufen, die sich wie Glieder einer Kette aneinanderreihen und auch aufeinander aufbauen. Kommt es nur bei einer dieser Etappen zu Konflikten oder anderweitigen Störungen, pflanzen sich diese in der sprachlichen Entwicklung metastasenartig fort.

Individuelles Bewusstseinsreservoir

Jeder Mensch besitzt ein zum Teil un- und unterbewusstes Reservoir an Wissen, Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Erfahrungen, das ihn einzigartig macht und aus dem er sein ganzes Handeln und Verstehen schöpft. Gerade aufgrund dieser Individualität entstehen Bruchstellen innerhalb der Kommunikation, die zu Fremdheit führen:

Schwach ausgeprägtes Reservoir

Ernst Cassirer spricht von einem „sinnlichen Substrat“, welches die Basis für alle geistigen Tätigkeiten bildet und aus symbolischen Formen heraus erschaffen wird. Wenn ein Kind keine Empfindungen hat und von Erkenntnisprozessen ausgeschlossen ist, weil es vielleicht sich selbst überlassen ist oder nicht gefördert wird, bleibt sein Reservoir unzureichend gefüllt. Das Sammelbecken für notwendige Zeichen bleibt stark begrenzt. Die über das Symbolische laufende Subjektbildung kann nur unzureichend gewährleistet werden. Die Fremdheit kann sich in einem Gefühl der Überforderung und damit verbunden der Ausgrenzung ausdrücken.

Stark ausgeprägtes Reservoir

Das Reservoir der Bezugsperson ist im Gegensatz zu der des Kindes nur schwach gefüllt. Da ein ähnlich gelagertes kollektives Wissen aber die Grundlage für eine ausgewogene, respektvolle und intensive Kommunikation auf Augenhöhe ist, kann die unbewusste Registrierung dieser Differenz zu einem latenten Überlegenheitsgefühl seitens des Kindes führen. Die „symbolische Ordnung“ gerät in Unordnung. Sie ist als ein kollektiver Vorrat an Zeichen zu verstehen, die voraussetzt, dass alle miteinander kommunizierenden Personen eine ähnliche Sozialisation und eine gemeinsame kollektive Erfahrung besitzen. Dieses geteilte Bewusstsein ist die Basis zur Sinnbildung. Durch das indifferente Reservoir entwickeln sich auch die Symbole in verschiedener Weise, was wiederum zu Fehlschlüssen und Missdeutungen führt. Zweitens ist es möglich, dass das Kind, weil es von Natur aus wach und neugierig ist, mehr in sein Reservoir aufnimmt, als es verarbeiten kann. Dies führt zu einem Fremdheitsgefühl dem eigenen Selbst gegenüber, weil es auf der einen Seite die Gewaltigkeit der Eindrücke wahrnimmt, sie andererseits aber nicht zuordnen bzw. artikulieren kann.

Willkürlichkeit

Die Beziehung zwischen Vorstellung und Lautbild ist arbiträr, also willkürlich. Wenn ein bestimmter Gegenstand in verschiedener Art und Weise dargestellt wird, also von der gleichen Person mit unterschiedlichen Geräuschen oder Gesten begleitet oder mit verschiedenen Worten beschrieben wird, reagiert die empfangende Person darauf mit Unsicherheit. Diese kann sich natürlich auch sprachlich offenbaren. Dieses Indifferenzgefühl kann ebenfalls ins Abseits führen.

Komplexität

Der Sprachbildungsprozess ist ein komplexer Verweisungszusammenhang, der einer Kette gleicht, die sich in ihren Gliedern aufeinander aufbaut. Wenn ein Symbol falsch besetzt wird und darauf ein neues fußt, das auf dieses verweist, ist der Sinn von Anfang an verfälscht. Ein brüchig besetztes Symbol, dessen Bedeutungsgehalt nicht ganz zu erschließen ist, führt in der Verweisung zu Missverständnissen.

Sprachuniversalien

Jeder Mensch verfügt über die Fähigkeit zur sprachlichen Differenzierung. Es ist zu vermuten, dass sich diese Universalien am Besten entfalten, wenn das Kind nicht zu stark überformt wird. Dies geschieht, wenn sich das Kind aus sich selbst heraus erfährt und entfaltet und eine eigene Sprache entwickelt, die nur in geringem Maße vom mütterlichen oder väterlichen Sprachuniversum beeinflusst ist oder es sich in erster Linie an der Natur orientiert. Die Fremdheit entwickelt sich hier also aus der Differenz der sprachlichen Basis heraus. Die Kenntnisse des Kindes sind umfassender, da sie bewusster internalisiert wurden und somit zugleich differenzierter und intensiver sind.

Literatur und Vorstellungskraft

Ein starkes Interesse an Literatur und eine damit verbundene Lesesucht führen zu einer umfassenden sprachlichen Vielfältigkeit, die wiederum zu einer starken Verklärung der Sprache, komplexerer Wahrnehmung der Welt oder Ausbildung eines idealisierten Wertesystems führen kann. Da ebenso auch die Phantasie stark angeregt werden kann, füllt das Lesen das Bewusstseinsreservoir reichlich, findet aber gleichzeitig kein Ventil, wenn die Eindrücke und Erfahrungen nicht mit anderen geteilt werden können. Im Fall, dass das Kind auch ohne Literatur über eine bessere Vorstellungskraft verfügt als die Bezugsperson, kann es zu einem Bruch kommen, da das Kind mehr als das bezeichnete Etwas wahrnimmt und somit auch sprachlich sublimierter verfährt.

Ziel menschlichen Daseins: Vertrauen

Fremdheit, die in einer ihrer Facetten die Unfähigkeit beinhaltet, mit anderen Beziehungen einzugehen, mittels Bemühungen, den Anderen gesellschaftlich wie sprachlich näher zu kommen, kann einen einfühlsamen, sensiblen Charakter mit stark betonter Intuition und Sinnlichkeit fördern. Der führt wiederum zu einem vielseitigen, lebendigen Bewusstsein und bietet damit die Chance auf ein intensives, bewusstes und aufmerksames Leben nach der Überwindung der Fremdheit. Damit wäre eines der wichtigsten Ziele innerhalb des menschlichen Daseins erreicht und Fremdheit würde zu Vertrauen – nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu Anderen.