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Lyrik lakonisch – Poesie digital

03.08.2010

Um 1955 entstand die Konkrete Poesie, eine Art lyrischer Lakonismus. Sie kann in der Gegenwart durch digitale Techniken eine neue Kraft entfalten.

Manch einer wird die Geschichte des Wortes lakonisch kennen. Philipp der II., Vater von Alexander dem Großen, drohte im 4. Jh. v. Chr. mit seinem Heer den Bürgern der Hauptstadt der Provinz Lakonien, Sparta: „Wenn ich euch besiegt habe, werden eure Häuser brennen, eure Städte in Flammen stehen und eure Frauen zu Witwen werden“. Die Antwort der Spartaner blieb kurz und knackig: „Wenn.“

Die Kürze des Ausdrucks

Das Verlangen nach der Fertigkeit, sich kurz und knapp fassen zu können, geht bis in die Antike zurück. Derjenige, der in der Lage ist, sein Wissen präzise und auf den Punkt gebracht zu präsentieren, genießt mehr Ansehen, als derjenige, der zu ausufernden Erklärungen neigt. Platon vergleicht die Spartaner aufgrund ihrer verkürzten Sprache mit versierten Schützen, deren Worte wie Pfeile in die Wortwand ihrer Gegner treffen. Die Eliminierung des metaphorischen Schmuckes festigt und kräftigt die Sprache wie eine Speerspitze. Der griechische Redner und Politiker Lykurgos erklärt den Lakonismus gar zum Bildungsziel und erhebt die Schweigsamkeit sowie die Fähigkeit, sich bündig auszudrücken, zu einer Tugend. Die Kürze des Ausdrucks charakterisiert das Vermögen eines intensiven und hochkonzentrierten Geistes. Und auch Johann Wolfgang von Goethe konstatiert in einer Rezension zu „Des Knaben Wunderhorn“: „Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus“.

Meister der prägnanten Worte

Das japanische Haiku ist die bekannteste Form des poetischen Lakonismus. Auch in der deutschsprachigen Literatur haben sich im Laufe der Geschichte verschiedene Schriftsteller und Lyriker dem Lakonismus verpflichtet, wie z. B. Bertolt Brecht, Günter Eich, Erich Kästner und Rainer M. Rilke, die mit ihrer Lyrik als Meister der prägnanten Worte gelten können. Insbesondere die Konkrete Poesie, die Mitte der 1950er Jahre in Deutschland und Österreich auffällig wurde, kann als lakonischer Lyrikbeitrag charakterisiert werden. Ihr Protagonist und Begründer, Eugen Gomringer beschreibt die Konkrete Poesie als konzentriert und sparsam und stellt auch die Schweigsamkeit als das heraus, was die Konkrete Dichtung von der individualistischen Lyrik abhebt, wie auch sein eigenes Gedicht „Schweigen“ darstellt.

Befreiung des Wortes

Die deutschsprachige Konkrete Poesie entsteht Mitte der 1950er Jahre, zeitgleich zu anderen Strömungen dieser Art in Schweden und Brasilien, nimmt die Charakteristika moderner Lyrik auf und realisiert sie auf ihre Weise. Die Dispositionen der Konkreten Poesie sind z. B. die Vielgestaltigkeit der Sprachmittel, die neue Bedeutungen freisetzen, die Enthebung der Lyrik aus ihrer Instrumentalisierung, die zu einer Verdinglichung führt: die Konkrete Dichtung repräsentiert nur noch sich selbst. Sie kann zudem mit den Schlagworten Reduktion und Mehrdimensionalität charakterisiert werden. Weiterhin steht die Befreiung jedes einzelnen Wortes im Vordergrund, der Informationsgehalt wird entfunktionalisiert und auf eine Fläche, einen Spielraum, übertragen. Der Interpretationsrahmen wird enger; die Bedeutung des Textes kann nicht auf althergebrachte Art dechiffriert werden, da sie einen generativen Charakter hat. Das Gedicht erhält seine Bedeutung erst in der Rezeption und bekommt damit eine völlig neue Funktion zugeschrieben. Dem konkreten Gedicht wird, nach anfänglicher Irritation, ein Erkenntnisgewinn attribuiert.

Sprache verwerten und verwandeln

Zwei Konkretisten haben das Zukunftspotential der Konkreten Poesie selbst beschrieben. Franz Mon sieht in „intermedialen Versuchen“ mit „Text-Räumen“ und „Hör-Spielen“ Möglichkeiten der Grenzüberschreitungen in andere Genres, z. B. in die Musik, Bildende Kunst oder auch Architektur. Gerhard Rühm stellt in einem Interview fest, dass ein umfassendes Reservoir an Material zur Weiterentwicklung existent und verfügbar ist und sieht in den digitalen Techniken des 21. Jahrhunderts ein außerordentliches Potential, sprachliches Material zu verwerten, es zu verwandeln und ihm neue Formen zu geben. Auch der österreichische Literat und Philosoph Walter Meissl erkennt in den neuen, elektronischen Medien die Chance einer ganz neuen sprachlichen Struktur und Form. Die neuen kommunikativen Bedürfnisse der Menschen haben sich seit der Mitte der 1960er Jahre und ganz besonders in den letzten zehn Jahren (entscheidend forciert durch immer mehr computergestützte (Sprach-)Anwendungen) enorm verschärft und führen zu einem sprachlichen Wandel.

Hyper, hyper Codesprache

Symptome dieses in den Medien viel proklamierten und synonym gesetzten Verfalls der Sprache sind u. a. neben Anglizismen und Denglisch, die von Migrantenslang, Codes und Kargheit geprägte Jugendsprache, die durch übermäßige Computeranwendung (insb. Email, Chat, SMS) entstehende Sprachverknappung oder der Hang zu Abkürzungen, der im schlimmsten Fall zu einer Codesprache führen kann. Doch diese Entwicklungen können von der Konkreten Poesie aufgegriffen werden, wie dies z. B. der Künstler Florian Cramer in einem Vortrag an verschiedenen Beispielen veranschaulicht. Er definiert die digitale Netzkunst mit Schlagwörtern wie „Cyberspace“, Hypermedia“ und „virtueller Realität“ und verweist z. B. auf die deutsche Internet-Zeitschrift „Telepolis“, das Künstlerpaar „jodi“, die mit „Fehlfunktionen“ und Systemstörungen arbeiten, Alan Sondheim, der seine Dichtung mittels Computerprogrammen in fremde Texte einspeist und verwebt oder die Australierin Mary Ann Breeze alias „mez“, die mit sogenannten „mezangelles“ eine Fantasiesprache entwickelt, die als eine Melange aus Poesie, Umgangssprache sowie Codier- und Programmierungselementen zu charakterisieren ist. Etwas weniger anspruchsvoll erscheint die konkrete und visuelle Poesie des österreichischen Künstlers Anatol zu sein, die aber gerade in ihrer Schlichtheit, ihrer grafischen Darstellung und Alltagsbezogenheit die Lust am Wortspiel besonders beim Laien wecken könnte.