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Marina Abramović – Künstlerin der Gegenwart

19.12.2012

Die Regisseure Matthew Akers und Jeff Dupre haben mit ihrer Dokumentation „The Artist is Present“ im Jahr 2010 die serbische Performancekünstlerin Marina Abramović vor und während ihrer Retrospektive im Museum of Modern Art (New York) begleitet. Dieser Film widmet sich lediglich einem kleinen Ausschnitt des kreativen Schaffens der Künstlerin, eben jener Ausstellungsvorbereitung. Doch im selben Augenblick erschließt er einen Blick in den Kosmos einer faszinierenden Frau, die auf eine facettenreiche Weise gegenwärtig ist. Die Künstlerin beeindruckt mit außergewöhnlicher geistiger und körperlicher Präsenz, mit einer stark ausgeprägten Integrität, die sie im Hier und Jetzt verankert sowie mit performativer Kunst, die nur im Moment der Aufführung existiert.

Extreme Erfahrungen, Natur und Philosophie

Marina Abramović, 1946 in Belgrad geboren, Kind zweier Nationalhelden der Tito-Zeit, hat bislang ein Leben voller existenzieller Erfahrungen geführt. Ihre Partisanen-Eltern erziehen sie mit militärischer Strenge und sind nicht in der Lage, Liebe zu geben. Mitte der 1960er verlässt der Vater die Familie. Die Mutter übernimmt die Kontrolle. Selbst als fast 30jährige hat Marina um 22 Uhr zu Hause sein. Nähe und Wärme erhält sie von ihrer Großmutter, die ihr auch das Tor zur Spiritualität öffnet. Nach der Erfahrung des Systemzusammenbruchs in den 1990er Jahren, entdeckt sie das Nomadentum und reist durch die Welt. Die Erfahrung des Extrems ist für sie wesentlich. Im Balkan ist alles extrem: „extreme Zärtlichkeit, extremer Hass, extreme Gewalt“. In einem Interview mit dem Kunstmagazin „art“ kurz vor der großen Retrospektive nennt sie Anthropologie, Natur und Philosophie als ihre künstlerischen Einflüsse. Abramovićs Universum speist sich aus Kontemplation und Reflektion.

Kunst und Visionen

Menschen, die ein Leben abseits der Konvention gewählt haben, werden oft gefragt: Warum hast Du keine Kinder? Oder: Was willst Du mit einem Kunststudium anfangen? Manche Künstler werden ihr Leben lang mit einem großen Fragezeichen konfrontiert: IST DAS KUNST? Marina Abramović hat diesen Zweifel länger nicht mehr gehört, obwohl jene Frage über dreißig Jahre nahezu jedes Interview eingeläutet hat. Die Frage wird nicht mehr gestellt, weil die Antwort nun endlich auf der Hand liegt: Ja, Abramovićs performative Arbeiten sind Kunst. Kunst, die ergreift und verstört und die Auseinandersetzung mit Fragen des alltäglichen Daseins ebenso inspiriert wie die Frage nach dem, wer wir sind und warum wir tun, was wir tun. Abramovićs Kunst beantwortet die Frage, wie man in der Gegenwart ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben leben kann: mit Aufrichtigkeit, Disziplin, Geduld, Leidenschaft, Liebe und einer Vision. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, so Altbundeskanzler Schmidt. Ja! Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen und sich attestieren lassen, dass dies zum Wesen der Kunst gehört.

Performance als Kunstwerk

Wie kaum ein anderer Künstler der Gegenwart hat Marina Abramović eine Vision, der sie konzentriert folgt. Seit ihrer ersten Performance im Jahr 1975 hat sie bis zur Retrospektive im MoMA, dem Adelsschlag der Kunstwelt, gebraucht, die Performance als anerkannte Kunstform zu etablieren. Dies ist ihre Mission. Und diesem Auftrag folgt sie vorzugsweise mit Arbeiten, in deren Mittelpunkt die Überwindung von Schmerz steht. Abramović glaubt, dass nur derjenige das Leben genießen kann, der sich von seinen Ängsten befreit. Und: „Der Mensch hat vor zwei Dingen Angst: vor seiner Sterblichkeit und vor dem Schmerz“. Sie hat Grenzerfahrungen mit dem Körperlichen häufig ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt: sie peitscht sich aus, legt sich ins Feuer, schneidet sich, läuft gegen Wände. „Niemals aufgeben“, lautet ein Credo der Künstlerin, die das Leben von unten und oben kennt: Disziplin und Spaß. Gewalt und Empfindsamkeit. Ablehnung und Verherrlichung. Während einer mehrjährigen Tour durch Europa in einem alten Polizeibus mit ihrem damaligen Lebensgefährten Ulay in den 1970ern hat sie das Laisser-faire genossen, wie für ihre Kunst unermüdlich gearbeitet. Natürlich wird der Bus zum Objekt einer Performance gemacht: „Relation in Movement“. Die beiden fahren 1977 während der Paris Biennale stundenlang mit dem Auto im Kreis. Ulay lenkt, Marina ruft mit einem Megaphon die Anzahl der Runden hinaus. Die Frage lautet: Wer gibt zuerst auf? Maschine oder Mensch? Es ist das Auto. Nach 16 Stunden.

Das Manifest der Marina Abramović

Ein von Marina Abramović verfasstes Kunst-Manifest offenbart ihre Ansprüche an sich selbst und ihre Kunst auf eine sehr prägnante Art und Weise. In 18 Artikeln stellt sie ihre Regeln vor. Der erste Artikel erinnert an die zehn biblischen Gebote: nicht lügen, nicht stehlen, sich nicht selbst zum Idol machen. Dann heißt es weiterhin: Ein Künstler soll erotisch sein. Der Künstler soll leiden, weil Leiden transformiert. Über ihre eigenen Erfahrungen mit psychischer Gewalt in Form von emotionaler Vernachlässigung und Kälte, Drill und Überwachung sagt sie: „Entweder man überlebt es und es macht einen stärker oder man versinkt in Depressionen“. Aber: Ein Künstler darf nicht depressiv sein. Und: Ein Künstler ist das Universum. Ein Künstler soll die Kontrolle über sein Leben und seine Arbeit behalten. Drogen und Alkohol lehnt sie strikt ab. Ein Künstler muss im Geben und Nehmen transparent bleiben. Ein Künstler muss die Stille verstehen können. Dies ist auch das Geheimnis ihrer ausgedehnten Performances. Abramović hat die Ruhe in sich gefunden. Für sie ist Stille wie eine Insel inmitten eines stürmischen Ozeans. Der Künstler muss sowohl Erfahrungen mit der Einsamkeit als auch mit der Natur machen. Der Künstler soll sich nicht selbst wiederholen oder überproduzieren. Sie verweist weiterhin auf Besitztümer, mit denen sich ein Künstler begnügen soll und orientiert sich dabei am Hab und Gut buddhistischer Mönche. Der Künstler ist auf Freunde angewiesen, die seine Stimmung erhellen. Ebenso braucht er Feinde, weil der Künstler lernen muss, zu vergeben. Am Ende verweist Abramović darauf, wie wichtig es ist, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden und schließt ihr Manifest mit den Worten: „The funeral ist the artist’s last art piece before leaving“. Für ihre eigene Beerdigung wünscht sie sich „eine große Feier […] mit viel Musik“.

Kunst zwischen Provokation und Verletzlichkeit

Abramovićs Kunst steht zwischen Unbequemlichkeit, Provokation und Radikalität auf der einen sowie Verletzlichkeit, Geduld und Reinheit auf der anderen Seite. Sie zeigt, dass sich diese Dinge nicht ausschließen, sondern zusammengehören (müssen). Mit ihrem Gebot „Unser Leben wird immer schneller, also muss die Kunst langsamer werden“ widersteht sie der sich selbst beschleunigenden Rastlosigkeit des gegenwärtigen Lebens. Dies tut sie mit Arbeiten wie „The Artist is Present“, einer Performance während derer sie drei Monate lang, sechs Tage die Woche, sieben Stunden am Stück auf einem Stuhl verharrt, um den ihr gegenüber sitzenden Besuchern ins Gesicht zu blicken: „Auge in Auge mit dem Publikum zu sein, fühlt sich an, als ob man seine Seele öffnen würde“.

Liebe zum Leben und zur Kunst

721 Stunden lang schaut sie in 1.565 Besucher hinein, solange diese es wollen. Menschen fangen ob ihrer überwältigenden physischen und psychischen Präsenz sowie ihrer Fähigkeit zu einer fast übernatürlichen Konzentration zu weinen an. Klaus Biesenbach, Chefkurator für Medienkunst am MoMA, erzählt im Film über Marinas Liebe zur Welt. Er berichtet darüber, dass er ihres einzigartigen Blickes wegen anfangs glaubte, sie sei in ihn verliebt. Aber sie liebt nicht ihn. Sie liebt die Welt. Ebenso wie ihre Kunst, „weil meine Kunst mein Leben ist. Eigentlich habe ich keinen Platz für einen anderen Menschen“. Eigentlich. Abramović ist zuletzt mit einem italienischen Bildhauer verheiratet gewesen. 12 Jahre hat die Liaison gehalten, ebenso lang wie mit dem deutschen Künstler Uwe Laysiepen (Ulay). Auch wenn es in ihrem “An Artist’s Life Manifesto“, das sie 2011 anlässlich der Biennale in Venedig öffentlich präsentiert, dreimal heißt: „An artist should avoid falling in love with another artist“. Beendet wird die künstlerisch außergewöhnlich fruchtbare Symbiose mit Ulay durch einen drei Monate währenden Gang auf der Chinesischen Mauer, bei dem sich die beiden aufeinander zu bewegen, um sich bei ihrer Begegnung als Paar zu trennen. Lang ist der Weg bis zum Ende. 35 Jahre hat Abramović um die Anerkennung ihrer Kunst gekämpft. Und ist letztendlich angekommen. Schon längst bei sich selbst. Im Hier und Jetzt. Nun auch in der Kunst.

Geistesgegenwart, Gegenwärtigkeit & Präsenz

Das Angekommensein spiegelt sich auch in ihrer Ausstrahlung wider. Die inzwischen 66jährige Künstlerin wirkt präsenter und schöner denn je. Weil Schönheit aus dem Inneren erwächst, sich aus Integrität, Demut und Leidenschaft speist. Ihr Zugegensein und ihre Kraft sind unbegreiflich. Der Film von Akers & Dupre über die serbische Künstlerin Marina Abramović zeigt das auf eine nachhaltige Art und Weise: Gegenwärtigkeit ist das Zauberwort in einer Zeit, die nur in die Zukunft zu blicken scheint. Nur, wer in der Gegenwart lebt, kann Präsenz zeigen und wird sichtbar. Wer präsent ist, kann sehen. Wer sehen kann, erkennt.

Das ist die Kunst.

Quellen

An Artists’ Life Manifesto

Interview mit art – Das Kunstmagazin: „Feminismus kann ich nicht ausstehen“ (03/2010)

Interview mit Art in America (05/2009)

Artikel: „Die Mutter aller Schmerzen“ (01/2007)

McEvilly, Pejic & Stoos (1998) Marina Abramovic, Artist Body, Performances 1969-97.