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Vom Mut zur Inspiration – Eine Ode an die Entökonomisierung des Geistes

30.05.2010

Welche Rolle spielt die Inspiration in unserer von Globalisierung, Rationalisierung, von Produktivität und Optimierung geprägten Welt – hat die „Beseelung“ noch eine Bedeutung?

In einer Zeit, die von Globalisierung, Rationalisierung, von Produktivität und Optimierung geprägt ist, in der aber ebenso das Interesse an Kunst, Mode, Design und Architektur in die europäischen und westlich-orientierten Mittelschichten diffundiert, stellt sich natürlich die Frage: Welche Rolle spielt die Inspiration im Jahr 2010? Hat die Lebendigmachung von Gedanken, das Einhauchen von Geist (lat. inspiratio = Beseelung), die zum ersten Mal von Cicero als Afflatus beschrieben wurde, in unserer globalisierten, ökonomisch-orientierten Welt noch eine wesentliche Bedeutung? Ist sie in einer immer komplexer werdenden Welt nicht vielleicht sogar das wichtigste Element des Künstlers geworden – der Weg zur Inspiration ein Ausbrechen aus den gesellschaftlichen Erwartungsschemata? In der Postmoderne bleibt das völlig Neuartige aus.

Wo sind die Polyhistoren der heutigen Zeit, die mit bahnbrechenden Ideen, mit universal einsetzbaren Einfällen und Entwürfen daran gehen, die Welt zu erschüttern?

Alles, egal ob in der Literatur oder in der Architektur, ist in der heutigen Zeit eine Abwandlung oder geringfügige Weiterentwicklung des schon einmal da Gewesenen. Jeder Künstler muss sich über kurz oder lang die Frage gefallen lassen, was ihn oder sie angeregt hat. Anselm Kiefer hat sich beispielsweise von Bachmann und Celan beflügeln lassen, wenn er durch eine Celan’sche Verszeile („Mohn und Gedächtnis“) inspiriert ist, getrockneten Mohn in seine Werke einzuarbeiten. Die größte Inspirationsquelle war, ist und bleibt eben die Natur. Jeder aufmerksame Beobachter wird in der Flora und Fauna alle Farben und Formen wiedererkennen, die in der Mode, Kunst oder Architektur Ton angebend sind oder waren. Der deutsche Bildhauer und Kunstschmied Fritz Kühn bringt es in seinem Buch Sehen und Gestalten. Natur und Menschenwerk, Leipzig 1951 auf den Punkt:

„Bei aller Vergeistigung aber muss jedes Kunstwerk, und möge es noch so einfach, noch so abstrakt in der Form sein, immer seinen Ursprung in der Natur behalten“.

Fritz Kühn

Aber warum können sich manche Menschen von einem Blatt inspirieren lassen, das von einem Baum trudelnd herunterschwebend vor ihren Füßen landet und warum suchen andere ihr Leben lang nach Inspiration, die ein metaphysisches Erlebnis auslöst? Fakt ist, dass eher das Ungewöhnliche, Nicht-Alltägliche inspirierend wirkt, dass die Freiheit des Geistes die Eingebung fördert. Menschen in Berufen, in denen sie in engen Takten nach Lösungen suchen müssen, in denen sie tagtäglich einer Flut von Informationen ausgesetzt sind, in denen sie ständig mit verschiedenen Menschen kommunizieren müssen, werden lange auf eine Inspiration warten müssen. Denn sie entsteht in der Ruhe (z.B. in der Natur), wenn der Geist nicht vom Alltäglichen belastet ist, sie kommt, wenn man es nicht erwartet und bleibt aus, wenn man sie forciert. Auslöser für Inspirationen können die Betrachtung von Kunstwerken sein, unverhoffte Begegnungen mit anderen Menschen (v.a. Musen), Reisen in ferne Länder und vor allem Träume.

Der japanische Holzschnittmeister Katsushika Hokusai greift in seinen bekanntesten Werken Naturthemen auf und variiert z.B. in seiner Serie „36 Ansichten des Berges Fuji“ ein einzelnes Motiv. Damit wiederum hat er einen erheblichen Einfluss auf den europäischen Impressionismus und inspiriert van Gogh, Gauguin, Schiele oder Klimt.

Jeder Mensch kann auf eine andere Weise inspiriert werden.

Für William Faulkner stecken in der Inspiration „neunundneunzig Prozent Whisky und ein Prozent Schweiß“. Auch Drogen gelten seit jeher vor allem in der Kunst und Literatur als Inspirationsquelle, aber nur wer ein Bewusstsein hat, kann es mit solchen Mitteln auch erweitern. Inspiration braucht Substanz. Sie ist die Fertigkeit der Verknüpfung. Die Basis dafür sind Fantasie, Intuition und die Fähigkeit, zu träumen – naturgegebene Neigungen, die im Bildungs- und Optimierungswahn verkümmern und von lösungs- und ergebnisorientiertem Denken verdrängt werden. Die Begabung, Inspirationsprozesse zu erhalten, muss wachsen. Ihr geht ein umfassender kultureller und persönlicher Bildungsprozess voraus.

Dieser persönliche Bildungsprozess ist aber eben nicht in der Spezialisierung des Menschen zu suchen, im Verbarrikadieren in fachlichen Nischen. Denn dieser durch Industrialisierung und protestantische Ethik geebnete Sonderweg untergräbt die Fähigkeit, sich inspirieren zu lassen. Die geistige Befruchtung durch unterschiedliche, nicht nur wissenschaftliche und künstlerische Disziplinen generiert eine reiche Chora, ein vieldimensionales Gebilde aus Gedanken, Erinnerungen und Eindrücken, die im Spiel mit diesen einzelnen Elementen zu neuen Ideen führen. Neben diesen fachlichen Fähigkeiten, die Verknüpfungen möglich machen, wird die Inspiration durch ein freies Denken gefüttert, ein tolerantes Bewusstsein, die Tatsache, in der Betrachtung der Dinge ein Kind geblieben zu sein, die Fähigkeit zur Ruhe sowie durch die natürliche Neugier und den Drang, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen.

Die Inspiration kommt nicht zu uns – wir müssen die Inspiration bitten, uns zu begegnen. Und wenn wir genügend Geduld aufbringen, die Inspiration aus den metaphysischen Tiefen herauszulocken, dann wird sie über uns kommen wie eine Lawine: Wird sie erst einmal in Gang gesetzt, ist der Blickwinkel für die einfachen, alltäglichen Dinge und ihre Verbindung erst einmal geschaffen, wird sie eines Tages vielleicht auch ein Teil von uns. Die „göttliche Eingebung“ (Cicero) kann auch in einer säkularisierten Welt wieder in uns wieder lebendig werden, wenn wir zu uns finden, über den Tellerrand schauen, experimentieren und vor allem: uns von der Geschwindigkeit und dem Rationalisierungsdrang der Uninspirierten nicht kirre machen lassen. Ganz im ursprünglich religiösen Sinne fußt die Inspiration auf einer andächtigen Grundeinstellung. Ohne diese ideologische Verankerung bleibt jede vermeintliche Inspiration nur blasses Plagiat und führt zu einer Kreisbewegung, die einem Strudel gleich in den Abgrund geht.

Weiterführende Literatur

  1. Zeit der Muße – Zeit der Musen
    Bahr, Hans-Dieter (2008), Attempto-Verlag
  2. Vom Zauber der Muße
    Grün, Anselm (2009), Kreuz-Verlag
  3. „Muße braucht Zeit“
    Rosa, Hartmut (2010), (ZEIT, Ausgabe 01/10)
  4. Von der Seelenruhe. Vom glücklichen Leben.
    Seneca (2010), Anaconda-Verlag
  5. „Pausen des Geistes. Die Wiederentdeckung der Muße“
    Schnabel, Ulrich (2010), (ZEIT, Ausgabe 01/10)