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Innen und Außen – Die Kunst der Wahrnehmung bei Bruce Nauman und Olafur Eliasson

20.08.2010

In diesem Sommer haben der wohl bedeutendste, lebende Künstler des amerikanischen Kontinents Bruce Nauman als auch der zurzeit populärste europäische Konzeptkünstler Olafur Eliasson mit Ausstellungen in Berlin reüssiert, in deren Fokus die Metamorphose und Belebung der Empfindungskultur des Menschen stehen.

Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat sich in seinem Philosophieklassiker des 20. Jahrhunderts, den „Philosophischen Untersuchungen“ (1953), wie seinem Vorwort zu entnehmen ist, mit verschiedenen Dingen näher auseinandergesetzt: mit Bedeutungen, mit Sprache, mit Logik, mit mathematischen Grundlagen, Bewusstseinzuständen und anderem. In Paragraph 203 schreibt er: „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen“. Das Bild des Irrgartens ist nicht nur auf die Sprache anzuwenden. Auch die Stadt, in der wir leben, die Gesellschaft, in der wir uns bewegen oder die geistige Hülle, die uns umgibt, können sich zu undurchdringbaren Irrgängen und Verwicklungen verwachsen – ein chaotisches Wirrwarr aus überfrachteter Psyche, Popkulturrausch, Nachrichtentorpedos, Bewegungshektik, Informationswahn und Konsumlawinen, aus dem wir unter Umständen selbst nicht mehr herausfinden. Und weiter heißt es bei Wittgenstein: „Du kommst von einer Stelle und kennst dich aus; du kommst von einer andern zu selben Stelle, und kennst Dich nicht mehr aus.“ Und das ist es auch, wie Bruce Nauman festgestellt hat, was die Kunst interessant macht: „Man macht nie zweimal das gleiche“. Die Erfahrung mit ein und demselben Kunstwerk kann an einem Tag klaustrophisch sein, an einem anderen angenehm berührend. Bedeutsam ist in Hinsicht auf die Kunst nur die Intensität, die sie verursacht sowie ihr ethisch-moralischer Aspekt. Kunst braucht einen Standpunkt – eine Stelle, von einer Seite her vertraut, von einer anderen her unvorhersehbar und deshalb irritierend.

Der Blick fürs Wesentliche

Im 21. Jahrhundert spielen Sprache, Verwirrung und die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und besonderen Bewusstseinszuständen weiterhin eine große Rolle – und zwar nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kunst. Ein halbes Jahrhundert nach Wittgensteins Hauptwerk haben es sich zwei Künstler der Gegenwart zur Aufgabe gemacht, den Menschen aus dieser Unordnung zu befreien und seinen Blick auf das Wesentliche zu lenken. Sie haben sich mit der Wahrnehmung des Menschen, seiner Konstellation mit und in der Welt, mit Horizont und Begrenzung auseinandergesetzt. Sie eröffnen einen Spielraum, in dem „ein anderer die Kunst macht“, wie es Nauman in einem Interview einmal gewünscht hat. Über die Reduktion auf das Wesentliche gewinnt dieser Spielraum durch individuelle Kombinationsmöglichkeiten an Intensität und führt den gleichermaßen aktiven wie passiven Rezipienten in ein Feld der Irritation. Dieses Feld unbegrenzter metaphysischer Ausdehnung bricht ordinäre Ausdrucksformen auf und holt den Menschen aus der eindimensionalen und gesellschaftskompatiblen Wahrnehmungsglocke heraus.

Lebensläufe: Bruce Nauman und Olafur Eliasson

Auf den ersten Blick scheinen der amerikanische Künstler Bruce Nauman und der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson in zwei unterschiedlichen Welten aufgewachsen zu sein. Zudem trennen die beiden Konzeptkünstler 26 Jahre – Nauman könnte Eliassons Vater sein. Während Nauman in den USA erst Mathematik und Physik studiert und dann ein Kunststudium absolviert, konzentriert sich Eliasson von Anfang an auf die Kunst, deren Handwerk er an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen erlernt. Beide sind als Hochschullehrer tätig: Nauman an der Universität von Kalifornien, Eliasson an der Universität der Künste der deutschen Hauptstadt, in der er auch lebt. Die Metropole spielt im Werk beider eine wesentliche Rolle. Das Leben in der Großstadt zwingt den Menschen dazu, sich abzugrenzen. Und um diese Begrenzung zu ermöglichen, bedarf es einer Ordnung. Der Großstadtmensch der Gegenwart muss – will er nicht untergehen – lernen, aufzuräumen und sich auf den Kern seines Daseins zu konzentrieren.

Während Bruce Nauman sich in erster Linie mit der Frage nach der Wahrnehmung des Menschen beschäftigt, ist Eliasson an naturwissenschaftlichen Erscheinungen interessiert – ein Bereich, der in Naumans Werk aufgrund seines Erststudiums ebenfalls eine Rolle spielt. Er selbst gibt in einem Interview zu: „Dennoch gab es eine bestimmte Denkweise in der Mathematik, die sich bei mir auf die Kunst übertrug“. Es ist die Aktivität des Forschens, die auch Eliassons Kunst ausmacht. Die visuelle und psychische Dimension der Konzeptkunst eröffnet gleichermaßen einen persönlichen und öffentlichen Raum und generiert Aktion, Reaktion und Interaktion. Das Innen und Außen spiegelt sich einerseits darin wider, dass die Werkkonzepte im Studio entworfen werden, oft aber in der Außenwelt ihren Ausdruck finden. Es geht beiden darum, innen zu sein und heraus zu schauen sowie nach außen zu gehen und nach innen zu blicken: hinaus in die Welt, hinein in das Selbst. Die Unterbrechung des Alltäglichen oder auch die Irritation des Betrachters vollzieht sich bei Eliasson im Äußeren, bei Nauman im Inneren.

Im Sommer des Jahres 2010 haben beide Künstler ihre Werke in der deutschen Hauptstadt präsentiert – Eliasson mit seiner Ausstellung „Innen Stadt Außen“ im Martin-Gropius-Bau, Nauman mit seiner Werkserie „Dream Passage“ im Hamburger Bahnhof.

„Innen Stadt Außen“ und „Dream Passage“ in Berlin

Eine Beschäftigung mit ihrem Werk soll zeigen, dass beide Künstler sich in erster Linie in zweierlei Dingen sehr ähneln. Erstens geht es beiden um die Verortung von Wahrnehmungsmöglichkeiten. Eliasson steht außerhalb des Innenraums, Nauman innerhalb der Außenwelt – und im Graubereich dieser Zone treffen sich beide. Sie versuchen, durch Räume und Korridore, durch Gehwegplatten und Schattenspielen auf Begrenzungen aufmerksam zu machen und sie aufzusprengen. Zudem spiegeln beide den Betrachter und konfrontieren ihn damit mit der Begrenztheit sowohl seines eigenen Horizonts als auch der Welt. Der Zusammenbruch des Individuums steht für sie im Vordergrund. Während Eliasson der Meinung ist, dass wir Teil der Welt sind, sieht Nauman die Welt als Teil von uns. Alles ist eins. Dem Wahlberliner erscheint ein und dieselbe Stadt durch seine künstlerischen Objekte anders – bei Amerikaner ist es das Individuum. Das Involvieren des Rezipienten, den sie mit der Leere des Raumes konfrontieren, basiert auf einer Aufmerksamkeitserregung. Verdrängtes und Verschüttetes soll zurück ins Ich geholt werden. Das Unvorhersehbare spielt eine entscheidende Rolle. Beide Künstler unterbrechen etwas Verwachsenes, Festgefahrenes: Eliasson den äußeren Alltag, Nauman das innere alltägliche Einerlei.

In Naumans „Dream Passage“ stehen Übergangszustände und die Darstellung der Irrealität im Vordergrund. Er versucht, seine Rezipienten zu irritieren und unterbricht ihre Erwartungen. Er ist ein Türöffner in eine fremde Welt der Selbsterforschung. Sein Faible für das Unvorhersehbare spiegelt sich in Werken wider, in denen eine Sprachlosigkeit entsteht. Naumans Objekte bieten die Möglichkeit zur Selbsterfahrung, zur Reflexion und zum Perspektivenwechsel. Eliasson betreibt diesen Perspektivenwechsel mit Fahrrädern, deren Räder aus Spiegeln sind, ebenfalls. Sie reflektieren einerseits die Umgebung, werfen andererseits das Bild des Individuums zurück, geben einen neuen Blick, wenn die Position des Fahrrads nur geringfügig verändert wird. Auch Nauman treibt das Individuum auf eine Art Spiegel zu oder hinein in eine klaustrophische Situation, wie mit seinem Werk „Kassel Corridor: Elliptical Space“, in dem der Rezipient seine individuelle Erfahrung mit der Begrenzung machen kann. Der Korridor ist zwar an den Seiten offen, verengt sich aber zu den Enden hin. Naumans Korridore führen zu physischen wie psychischen Reaktionen gleichermaßen. Auch Eliasson konfrontiert den Betrachter mit seinem Werk „Non-stop park“ mit der Begrenzung, indem er Linien durch Parkanlagen zieht, die auf der einen Seite markieren, von der anderen her begrenzen. In seiner Installation „Corridor Installation (Nick Wilder Installation)“ präsentiert Nauman drei parallele, karge, weiß getünchte Korridore, an deren Ende Bildschirme auf dem Boden stehen. Läuft der Betrachter auf diese Bildschirme zu, sieht er sich entweder von hinten, schaut auf einen blinden Fleck oder bemerkt, dass er um die Ecke geht. Sobald der Betrachter dicht vor den Bildschirmen steht, erlischt das Spiegelbild. Das Individuum wird ausgelöscht und als Tabula rasa wiedergeboren, die neu bestückt und aufgeladen werden kann. Die Bewegung des Besuchers hat eine direkte Auswirkung auf das Ergebnis, wie das auch bei Eliassons Objekten („Fahrräder“, „Your uncertain shadow (color)“, „Spiegeltunnel“) oft der Fall ist. Jedes Ende, jede Neupositionierung des Individuums ist ein neuer Anfang.

Die innere und äußere Konstellation des Menschen

Eliassons Hauptinteresse widmet sich der Untersuchung von Horizonten, Wahrnehmungsbegrenzungen und Gestirnen. So wie er das „Sonnensystem als Arbeitsmodell“ (Daniel Birnbaum) begreift, geht Nauman der inneren Konstellation des Menschen auf den Grund. Beide Künstler werden zu Wahrnehmungsarchitekten, die mit Bewegung und Farben experimentieren, um Unbewusstes ins Bewusstsein zu bringen und den Raum zu verdoppeln. Das Kunstwerk entsteht durch jeden einzelnen Betrachter neu, so wie der Betrachter durch die vom Künstler gestaltete Welt selbst neu erschaffen wird. Und wie die gleiche Stadt, zum Beispiel durch Eliassons „Berliner Treibholz“, plötzlich in anderem Licht erscheint, zeigt sich bei Nauman ein und dasselbe Individuum von einer neuen Seite.

Die Empfindungskultur des Individuums

Nauman und Eliasson verwandeln und beleben die Empfindung des Individuums, für sich selbst und für die Welt um es herum. Sie erzeugen eine Art der Verwunderung. Und diese Verwunderung ist Anfang jeder philosophischen Auseinandersetzung. Die Liebe zur Weisheit fußt auf einer ausgeprägten Wahrnehmung. Die Erfahrung der Werke von Olafur Eliasson und Bruce Nauman sind einer von vielen kleinen Schritten, hin zu dieser Begabung, die Welt mit anderen Augen zu sehen – innen und außen.

Weiterführende Literatur:
Olafur Eliasson (2010): „Innen Stadt Außen“, Ausstellungskatalog, hrsg. von Daniel Birnbaum. Köln: Walther König Verlag.
Bruce Nauman (1996): „Interviews 1967-1988“. Dresden: Verlag der Kunst.
Ludwig Wittgenstein (1953/2003): „Philosophische Untersuchungen“. Frankfurt/Main.: Suhrkamp.