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Der Wille zur Ganzheit: Zur Notwendigkeit des Wechselspiels zwischen Philosophie und Physik am Beispiel von Carl Friedrich von Weizsäcker (Hausarbeit, 2014)

01.04.2014

Der Ganzheitsanspruch in Philosophie und Physik

Der Wille zur Ganzheit ist so alt wie die Philosophie selbst. Schon Platon verfolgt das Ganzheitskonzept im Dialog „Parmenides“ ebenso wie Aristoteles mit seiner Vorstellung, dass das Ganze über die Summe seiner Teile hinausgeht. Die in der Gegenwartsliteratur zu findende Definition von Holismus (1) steht in diesem Lichte: Ganzheit bedeutet, dass ein Element (als Entität oder in Hinblick auf seine Merkmale) „eine Funktion seines Zusammenhangs mit den anderen Elementen ist“ (Bertram & Liptow 2002: 7ff.), mit denen es ein Ganzes bildet. Dabei ist von Bedeutung, dass die Quantität dieser einzelnen Bestandteile nicht mehr erfasst werden kann. Im 16. Jahrhundert bricht René Descartes das Ganzheitskonzept auf und trennt Geist vom Körper bzw. das Denken von der Materie. Damit bereitet er den Weg für die Entwicklung der Naturwissenschaft als Einzelwissenschaft. Und dieser Gegensatz wird für viele Jahrhunderte das leitende Paradigma der Naturwissenschaften bleiben. Erst die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnde Quantentheorie bringt Objekt und Subjekt wieder in Einklang. In der Physik vertritt u.a. der Physiker Pierre Duhem die Holismus-These, die als Duhem-Quine-Theorie (1951) Bekanntheit erlangt hat. Hier kann nicht nur ein einzelner Theorieteil widerlegt werden. Der Gegenbeweis nimmt immer auf das System mehrerer Theorieteile Bezug. In der Gegenwart erhält das Thema der Ganzheit wieder Aktualität: „Automatismus und Chaos“ (Weizsäcker, zitiert nach Laitko 2011: 220) prägen die globalisierte Welt. Ein holistischer Blick hilft, die weltumspannenden Probleme zu erkennen und anzugehen. Und um die Welt ganzheitlich zu begreifen, ist ein Wechselspiel von Disziplinen vonnöten, weil ohne es immer nur Einzelaspekte der Realität wahrgenommen werden (vgl. Schüz 1986).

Eine kleine Geschichte philosophierender Physiker

Heraklit, Parmenides und Demokrit sind nur einige Namen von griechischen Denkern, die physikalische Phänomene philosophisch ausarbeiten. Als Paradebeispiel gilt der atomistische Materialismus Demokrits. Bereits 400 Jahre v. Chr. stellt der Philosoph fest, dass Dinge bestimmte Eigenschaften nur augenscheinlich haben, „in Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum“ (zitiert nach Capelle 1935: 399). Und auch im 16. und 17. Jahrhundert diskutieren Naturforscher wie Galilei gleichermaßen physikalische wie philosophische Fragen. Weil die Forscher philosophieren, sind sie in der Lage, zu erkennen, dass die Existenz von Tatsachen lediglich eine Frage des Begriffs ist. In der Zeit vor der Quantentheorie gibt es nur wenige Philosophen, „die sich von den Naturwissenschaften ihrer Zeit vor eine Aufgabe gestellt sahen“ (Hattrup 2004: 14). Zu diesen wenigen gehört seiner Meinung nach neben den antiken Denkern (vor allem Platon) auch Immanuel Kant. Vermutlich sind dies nicht zufällig starke Einflüsse auf das philosophische Denken Carl Friedrich von Weizsäckers. Für dessen Mentor Werner Heisenberg ist es die Aufgabe der Physik des frühen 20. Jahrhunderts, die Cartesianische Spaltung zu überdenken (Heisenberg 1959/2007).

In der Zeit von 1880 bis 1930 entfaltet sich das Interesse von Physikern an Philosophie zu voller Blüte. Adolf von Harnack wird die Bemerkung zugeschrieben, dass zu Unrecht geklagt würde, „dass unsere Zeit keine Philosophen mehr habe, sie sitzen nur jetzt in der anderen Fakultät, und ihre Namen sind Planck und Einstein“ (zitiert nach Atmanspacher 2000: 81). Neben Heisenberg, Max Planck und Albert Einstein sind auch Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli und Carl Friedrich von Weizsäcker als Physiker zu nennen, die mit explizit philosophischen Gedanken auf sich aufmerksam machen (Scheibe 2006) (2). Die etwa zwischen 1900 und 1925 stattfindende Entwicklung der Quantentheorie hebt die klassische Physik aus den Angeln. Die neuen Theorien stehen in einem fundamentalen Widerspruch zu den bisherigen Vorstellungen. Und genau hier knüpft das Wechselspiel von Physik und Philosophie an. Der Paradigmenwechsel von der klassischen Physik zur „neuen“ Physik erfordert „eine Weise geschichtsbewußten Philosophierens“ (Schüz 1986: 21). Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn hat in seinem stark beachteten Werk „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1967) beschrieben, dass sich Wissenschaft sprunghaft und nicht gleichmäßig fortentwickelt. Mit der Entstehung eines neuen Wissenschaftsparadigmas nimmt der Forscher auch die Wirklichkeit auf eine andere Weise wahr. Der revolutionär anmutende Paradigmenwechsel bedarf eines philosophischen Rahmens. Dieses Spiel von „Ebenen und Krisen“ ist ein wichtiger Bestandteil von v. Weizsäckers wissenschaftlicher Theorie – wesentlich beeinflusst durch die Entwicklung der Quantentheorie.

Aufbau der Arbeit

Die beiden Forschungsfragen lauten: Inwieweit verbinden sich in v. Weizsäckers Denken Philosophie, Physik und ein Ganzheitsanspruch? Was ist die Konsequenz? Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich in einem ersten Schritt mit der Philosophie als Konsequenz des Nachdenkens über Quantentheorie. Danach wird der wissenschaftliche Kosmos v. Weizsäckers in zwei Schritten beschrieben. Einer kurzen Skizzierung von drei ausgesuchten Werken folgt die Identifizierung wie Charakterisierung seines gedanklichen Gerüstes mit Hilfe der Fragen: Welchen Einflüssen unterliegt sein Denken? Worin besteht der theoretische Rahmen? Was ist die Methode Weizsäckers? Das Kapitel schließt mit einer Darstellung seines Verständnisses vom Wechselspiel zwischen Physik und Philosophie sowie einer Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Disziplinen ab. Das dritte Hauptkapitel widmet sich der Konsequenz von v. Weizsäckers Denken: der Errichtung des Starnberger „Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“. Die Beschäftigung mit den Themen dieses Institutes öffnet einen Fragenkomplex, wie die Lösung globaler Probleme durch einen ganzheitlichen Blick in Angriff genommen werden kann. Was lernen wir von v. Weizsäcker für die Gegenwart? Die Arbeit wird mit einer kritischen Betrachtung von v. Weizsäckers Wirken, einer Beschreibung ihrer Grenzen sowie möglichen Anknüpfungspunkten abgeschlossen.

Das wissenschaftliche Œuvre Carl Friedrich von Weizsäckers

Der 1912 in Kiel geborene Carl Friedrich von Weizsäcker studiert Physik, Astronomie und Mathematik in Berlin und Leipzig. Mit 21 Jahren promoviert er in Leipzig bei Werner Heisenberg (3) mit einer Arbeit über den „Durchgang schneller Korpuskularstrahlen durch ein Ferromagnetikum“. Drei Jahre später (1936) habilitiert er sich mit dem Thema „Über die Spinabhängigkeit der Kernkräfte“. Nach seiner Assistenzzeit am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin erhält er 1942 eine Professur für Theoretische Physik an der Universität Straßburg. Im Anschluss an eine Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen wechselt v. Weizsäcker die Disziplin und erhält auf dem Höhepunkt der bundesrepublikanischen Atomwaffendebatte im Jahr 1957 einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Hamburg. Sein wissenschaftlicher Werdegang schließt mit dem Direktorat des für ihn erschaffenen Max-Planck-Instituts in Starnberg (1970-80) (Weber 2002: 18). Von Weizsäcker stirbt 2007 im Alter von fast 95 Jahren.

Philosophie als Konsequenz des Nachdenkens über die Quantentheorie

In seinem Buch „Bewußtseinswandel“ (1988) legt v. Weizsäcker die Entwicklung der Quantentheorie zusammenfassend dar. Im Zentrum der Theorie stehen die Atome. Mit der Frage nach ihrem Aufbau beschäftigen sich u.a. Planck, Bohr, Heisenberg, Schrödinger und Rutherford. Vor allem aus Ernest Rutherfords Experimenten (1911) ergibt sich, dass Atome zum größten Teil leerer Raum sind und sich ihre Masse im Atomkern ballt. Die Physiker finden heraus, dass das Atom einen Kern und eine Elektronenhülle hat. Die Struktur des Atoms gleicht so der unseres Planetensystems. Aber: Warum ist das Atom stabil? Die Gesetze der bis dahin geltenden „klassischen“ Physik können dies nicht erklären, denn: Die negativ geladenen Elektronen umkreisen den positiv geladenen Atomkern auf Bahnen. Aufgrund dieser Bewegung müssten die Elektronen strahlen. Dabei würden sie aber Energie verlieren. Der Energieverlust wiederum müsste nun dazu führen, dass die Elektronen in den Atomkern fallen, was sie nicht tun. Daraus folgt: Sie bewegen sich nicht, sondern halten sich auf einer Kreisbahn auf. Wo genau sie sich aufhalten, ist nicht feststellbar. 1927 entdeckt Heisenberg mit seiner Unschärferelation die Unmöglichkeit, Ort und Impuls eines Teilchens zum gleichen Zeitpunkt exakt zu bestimmen. Der Impuls wird unscharf, wenn der Ort bestimmbar ist und vice versa. Schrödinger gelingt es, die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elementarteilchens mathematisch zu bestimmen. Auf Plancks Wirkungsquantum aufbauend, ergänzt Bohr mit seinem Komplementaritätsprinzip die Theorie: Jedes Elementarteilchen kann gleichzeitig als Welle und Teilchen auftreten. Teilchen und Welle sind komplementär.

Was folgt aus der Quantentheorie in philosophischer Hinsicht? Teilchen können gleichzeitig in verschiedenen Zuständen auftreten und sind so nicht direkt beobachtbar. Der Moment der Beobachtung beeinflusst das Experiment, weil die dazu nötige Lichtwelle das Teilchen anstößt und es bewegt. Genau hier greift der Dualismus von Subjekt und Objekt nicht mehr, weil die Trennung von beobachtetem Element (Teilchen = Objekt) und Beobachter (Subjekt) unmöglich wird.

Werner Heisenberg formuliert die philosophischen Schwierigkeiten, die die Quantenmechanik mit sich bringt, folgendermaßen: „Die Quantentheorie ist so ein wunderbares Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann“ (Heisenberg 1959/2007: 17). Die Quantentheorie erzwingt eine neuartige Konfrontation mit den Begriffen von Raum, Zeit und Wirklichkeit. Gemäß der Kuhn’schen Paradigmen-Theorie führen die fundamentalen physikalischen Entwicklungen zu einer Neuausrichtung des Denkens. „Die neue Physik ist das erste geschlossene, mit mathematischer Exaktheit faßbare System einer Naturerkenntnis jenseits der Grenzen des menschlichen Weltbildes“ (W1943/58: 29) (4). Einsteins Relativitätstheorie hat in einem ersten Schritt die klassische Raumanschauung aufgeben. Nun folgt im zweiten Schritt der Verzicht auf die „Objektivierbarkeit des Naturgeschehens“ (W1943/58: 47). Die im Rahmen der Quantentheorie durchgeführten Experimente beweisen, dass ein (physikalisches) Objekt zwei sich widersprechende phänomenale Zustände haben kann, als Teilchen und als Welle. Die „Kardinalfrage“ der Quantentheorie lautet also: „Handelt es sich dabei um Schwierigkeiten unserer Kenntnisnahme oder des Begriffs der objektiven Natur selbst?“ (W1943/58: 86) […].


(1) Ganzheit und Holismus werden im Folgenden synonym verwendet.
(2) Carl Friedrich von Weizsäcker ist der Einzige in dieser Runde, der im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere Lehrstühle in beiden Disziplinen innehat.
(3) Heisenberg trägt die Verantwortung für v. Weizsäckers Entscheidung, Physik zu studieren, da er ihm schon 1926 geraten hat: „Wenn du in unserem Jahrhundert Philosophie machen willst, dann lerne zuerst das philosophisch wichtigste Ereignis dieses Jahrhunderts kennen, und das ist die moderne Physik“ (W1988: 310, s.a. Gähde 2008: 35f.).
(4) Die Zitate aus v. Weizsäckers Werk werden im Folgenden mit (W19xx: yy) angeben.


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