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Ai Weiwei: Never Sorry

16.07.2012

Eine Geschichte über die Macht der Masse und eine Politik der kleinen Schritte

In der tragischen Geschichte „Love Story“ (1970) heißt es an einer Stelle „sich lieben heißt, nie um Entschuldigung zu bitten“. Im wahren Leben ist das oft anders. Eine aufrichtige Entschuldigung in Liebe, Freundschaft oder Beruf zum richtigen Zeitpunkt ist die einzig wahre Entscheidung. Es ist der Entschluss, ein in bedrohliche Schräglage geratenes zwischenmenschliches Verhältnis wieder ins Lot zu bringen. Es ebnet den Weg zum Kompromiss. Es ist eine Respekt verdienende Leistung, ehrliches Bedauern für ein falsches Wort oder eine gedankenlose Tat auszudrücken. Für eine Sache jedoch muss sich niemand entschuldigen: Wenn einer, wie der chinesische Künstler und Aktivist Ai Weiwei, mit ganzer Überzeugung und Kraft für eine drängende Sache kämpft, die eine ganze Gesellschaft angeht. Und auch wenn er dann Dinge tut, die andere unabsichtlich verletzen oder mit denen er sich selbst in die Bredouille bringt, dann gilt: „Never Sorry“.

Dies ist der Titel einer Dokumentation über den bekanntesten Chinesen der Gegenwart, die zurzeit im Kino zu sehen ist. Drei Jahre lang hat die Regisseurin Alison Klayman den Dissidenten mit der Kamera begleitet. Sie nimmt seine großartigen künstlerischen Erfolge ebenso in den Blick wie die lebensbedrohlichen Konsequenzen seines kritischen Handelns. Die Amerikanerin zeichnet das Bild eines unbeugsamen Charakters, der von sich behauptet, ängstlich zu sein und doch in erster Linie durch seinen Mut auffällt.

Der 1957 in Peking geborene Konzeptkünstler ist Sohn des berühmten Dichters Ai Qing, der als Regimekritiker 20 Jahre seines Lebens in der Verbannung fristen muss. Ai Weiwei wird schon als Kind mit den von der Regierung veranlassten öffentlichen Demütigungen seines Vater konfrontiert. Diese Erfahrung verbindet sich mit denen einer Welt, die gegensätzlicher nicht sein könnte. Ai Weiwei verbringt in den Achtzigern und Neunzigern zwölf Jahre seines Lebens in den USA. Schon damals experimentiert er mit viel mit der Kamera und der Macht der Bilder. Von einer schweren Erkrankung seines Vaters ins Reich der Mitte zurückgerufen, lebt er seitdem in Peking. Der Künstler ist mit seinen provokanten und kritischen Worten, Gesten und Werken schnell ins Visier der Regierung geraten und wird seitdem regelmäßig drangsaliert. Die Repressalien der Kommunistischen Partei spitzen sich im letzten Jahr mit einem fast dreimonatigen Arrest zu – eine Zeit, in der niemand weiß, wo sich Ai Weiwei aufhält und in der Millionen von Menschen, Chinesen und Ausländer gleichermaßen, mit Protesten darauf aufmerksam machen, welche machtvolle Position der Künstler inzwischen eingenommen hat.

An einer Stelle des Films heißt es ungefähr: Freiheit ist etwas, das man nie wieder los wird, wenn man es einmal gespürt hat. Diese Freiheit umfasst nicht nur die politische in einer Diktatur wie China, sie steht auch – im aufklärerischen Sinne – für die persönliche Selbstbestimmung eines jeden Einzelnen, egal in welchem politischen System er lebt. Diese auf die Person bezogene Unabhängigkeit löst sich von den Vorstellungen und Konventionen der Gesellschaft, in der das Individuum lebt. Sie gibt ihm die Möglichkeit, so zu leben, wie es die innere Stimme verlangt. Wer auf diese Stimme zu hören vermag und in der Lage ist, ihr zu folgen, wird zu fest verwurzelten Überzeugungen gelangen. Und je fester diese verankert sind, desto natürlicher wird der Weg, auf dem diese Ansichten in kleinen Schritten, aber unbeirrbar realisiert werden – bewusst oder unbewusst. Und diese Unbeirrbarkeit ist der wesentliche Charakterzug des chinesischen Künstlers.

Ai Weiwei hat vor allem durch das Internet weltweit Berühmtheit erlangt. Wer sich bislang mit dem Künstler nicht intensiv beschäftigt hat, möchte meinen, da ist ein Selbstdarsteller am Werk. Das via Internet millionenfach verbreitete Bild, das ihn nach der Operation in München zeigt, bestärkt diese Wahrnehmung. (Ai Weiwei hat sich nach einem Handgemenge mit chinesischen Polizisten durch einen Schlag auf den Kopf eine Hirnblutung zugezogen. Erst nach mehreren Tagen mit Schmerzen wird er, gerade in Deutschland, untersucht und operiert.) Doch nach diesem Film weiß man: Der Zweck heiligt die Mittel. Mit diesem Foto heischt Ai Weiwei nicht nach Mitleid; es ist die Kritik an einem System, das vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckt und sie trotz erdrückender Beweislage auch noch konsequent leugnet. Nach diesem Film steht Ai Weiwei als eine Art moderner Buddha da, der gegen ein rücksichtsloses Regime gewaltlos vorgeht: mit philosophischer Gelassenheit, Bescheidenheit, Durchhaltevermögen, Humor, Selbstvertrauen und Geradlinigkeit. Ai Weiwei kämpft mit den Waffen seiner Zeit: Kamera, Smartphone & Twitter. Die Darstellung seines ganz individuellen Lebens, das dennoch ein Teil chinesischer Geschichte ist, mit Mitteln der modernen Kommunikationstechnik schlägt eine Brücke zwischen Tradition und zukunftsorientierter Gegenwart.

Diese individuelle Handschrift des Künstlers spiegelt sich in zweien seiner Projekte ganz besonders stark wider: „Sunflower Seeds“ und „Coloured Vases“. Für die Tate Modern London hat Ai Weiwei von 600 Menschen 100 Millionen Sonnenblumensamen aus Porzellan bemalen lassen und lässt mit diesem Kunstwerk Raum für vielerlei Interpretationen: Die Sonnenblume symbolisiert individuelle Entwicklung. Jeder einzelne dieser Pflanzenkeime ist ein Unikat „Made in China“ – eine Hommage an die chinesische Tradition des Kunsthandwerkgewerbes, die aus dem Blickwinkel der Ausländer gefallen ist. Denn „Made in China“ steht außerhalb des Landes für Repliken und schadstoffverseuchten Plastikschrott. Der Künstler macht mit diesem Werk auch auf die Not der einheimischen Bevölkerung aufmerksam, die sich oft von Sonnenblumenkernen ernähren muss. In Zeiten von Höchstpreisen für den Besuch von Großmuseen wie der Tate sendet Ai Weiwei eine weitere Botschaft: Der Eintritt für diese Ausstellung ist kostenfrei. Das Projekt „Coloured Vases“ schlägt einen ähnlichen Ton an. Der Künstler und seine Mitarbeiter haben neolithische Vasen (ca. 5.000 und 3.000 vor Christus) mit knalliger Industriefarbe angemalt oder mit einem Coca-Cola-Schriftzug versehen. In der Kritik steht damit der Umgang der chinesischen Regierung mit dem kulturellen Erbe des Landes. Das am meisten ergreifende und politischste Werk ist die künstlerische Verarbeitung des Erdbebens von Sichuan (2008). Kurz nach dem Unglück, das fast 6 Millionen Menschen obdachlos gemacht hat, fängt Ai Weiwei an, mit etwa 200 ehrenamtlichen Helfern die Namen der bei der Katastrophe ums Leben gekommenen Schüler zu rekonstruieren. Gegen den Willen der Regierung befragt er die Menschen vor Ort und veröffentlicht die Liste zum Jahrestag des Unglücks im Netz. Über das Internet hat er die Menschen zudem dazu aufgerufen, jeden einzelnen Namen der über 5.000 Kinder vorzulesen und ihm per Email zuzusenden. Dieses Tondokument, aus Tausenden Stimmen zusammengesetzt, erinnert an den zweiten Jahrestag des verheerenden Erdbebens. An der Fassade des Münchner Hauses der Kunst lässt Ai Weiwei 2009 unter dem Titel „Remembering“ 9.000 verschiedenfarbige Rucksäcke zum dem Schriftzug „Sie lebte sieben Jahre lang glücklich in dieser Welt“ zusammensetzen. Es ist der Satz einer Mutter, die ihr (wie in China üblich: einziges) Kind beim Erdbeben verloren hat.

Die britische Zeitschrift „Art Review“ wählt Ai Weiwei zum weltweit einflussreichsten Künstler 2011. Der Herausgeber Mark Rappolt verweist mit dieser Ehrung darauf, dass der Künstler „die Kunstwelt an ihre politische Rolle erinnert“. Neben dieser politischen Dimension ruft Ai Weiwei auch jeden einzelnen Menschen zu Kreativität, Mut & Solidarität auf. Fähigkeiten und Werte, die in unserer Welt unentbehrlich geworden sind und zu denen doch nur noch eine Minderheit fähig ist. Mut und Solidarität sind nicht einfach abrufbar. Man muss dies lernen und jeder kann es für sich tun, jeden Tag, Schritt für Schritt. Mut bedeutet, seine Meinung zu sagen, auch wenn man Benachteiligung oder soziale Ausgrenzung befürchtet. Mut beinhaltet, Menschen in Schutz zu nehmen, die zu schwach sind, sich selbst zu verteidigen. Mut besagt, sein Leben so zu leben, wie es von selbst aus einem heraus will. Solidarität heißt, anderen zu helfen, zur Seite zu stehen. Mit kleinen Dingen: jemandem im öffentlichen Raum ein Taschentuch reichen, wenn er weint; einer Frau den Kinderwagen die Treppen hinab oder hinauf tragen; einer offensichtlich ver(w)irrten Person Hilfe anbieten.

Aufmerksam sein. Hinschauen. Lächeln. Teilhaben. Mitgefühl zeigen.

Mit den monumentalen Projekten, beispielsweise aus 100 Millionen Sonnenblumenkernen oder 9.000 Rucksäcken komponiert, setzt Ai Weiwei auf die Macht der Masse. Seine Bekanntheit lebt von dieser Übermacht: Auf Twitter hat der Künstler am heutigen Tage 154.703 Follower, Tausende von meist inländischen Unterstützern spenden zur Begleichung der unrechtmäßigen Steuerforderung der chinesischen Behörden an ihn etwa eine Million Euro. Unzählige Regierungen, Institutionen und Individuen auf der ganzen Welt protestieren mit Worten und Aktionen nach seiner Verhaftung im April 2011.

„Never Sorry“ demonstriert auf ergreifende und nachhaltige Weise, dass ein Einzelner etwas ausrichten kann, wenn er mit Überzeugung ans Werk geht und dadurch Anhänger gewinnt. Mit kleinen Schritten lassen sich auch lange Wege bewältigen. Etwas lieben heißt, nie um Entschuldigung zu bitten. Dies gilt ganz besonders für den leidenschaftlichen und überzeugten Kampf für eine gute Sache, die alle angeht.

Alison Klayman, “Ai Weiwei: Never Sorry” (2012)