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Rezension: William Somerset Maugham, „Silbermond und Kupfermünze“ (1919)

18.10.2011

London. Gehobene Gesellschaft. Charles Strickland, ein Mann in den Vierzigern, Börsenmakler, Ehemann und Vater, verlässt ohne Nennung von Gründen überstürzt den wohlig-warmen Schoß von Familie und Beruf, um seiner Bestimmung zu folgen: Er will malen. Die erschütterte, zurückgelassene Ehefrau beauftragt den Ich-Erzähler der Geschichte, den Entflohenen ausfindig zu machen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Der Erzähler findet Strickland in einem heruntergekommenen Pariser Hotel und erzählt in diesem bezaubernden Buch des englischen Schriftstellers und Arztes William Somerset Maugham von seinem und Stricklands Lebensweg, der beide zum Ende des Buches ins paradiesische Tahiti führt.

Dieses nur etwas mehr als 200 Seiten umfassende Büchlein macht aus etwa zwölf, sonst lächerlich kurzen, Stunden eine „ewige Gegenwart“. Die Zutaten sind eine in ihren Widersprüchen sehr authentische Person, die Ähnlichkeiten zu einem berühmten französischen Maler aufzeigt, psychologisch-entlarvende Beobachtungen in von Konventionen gegängelten, englischen Tee-Gesellschaften und das Wechselspiel von schwärmerischer und lakonischer Sprache. Die Art und Weise, wie sich der Ich-Erzähler an den Maler Strickland aktiv und passiv annähert, ihn beobachtet und zu deuten versucht, sich daran macht, seine undurchdringliche Sprache zu entwirren; ihn verflucht, aber gleichzeitig auch verehrt, ist außerordentlich überzeugend. Man stolpert über Formulierungen wie „ich war ihn ihm drin“ bzw. „er war in ihr drin“ und stellt am Ende der Lektüre fest, dass der Erzähler, angestachelt von seiner Fantasie, regelrecht in seine Figuren eindringt, sie sich quasi einverleibt. Und dieses Verweben des Beobachteten mit der Nacherzählung des Gesprochenen anderer oder die Vorstellung, wie es hätte sein können; diese Rolle der Einbildungskraft, die sich mit Realität verbindet, ist der fruchtbare Boden für jede Kunst. Trotz seiner Bösartigkeit und seines hässlichen Äußeren ist die Figur des Charles Strickland überaus gewinnend. Dem Genie verzeiht man jedes noch so niederträchtige Verhalten. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Figur am Ende doch nicht so gut durchleuchtet ist, wie dies zwischendurch den Anschein hat. Oder diese Unschärfe ist das Spiegelbild des von Widersprüchen gekennzeichneten Wesens. Der vermutlich sympathischste Charakterzug an Strickland ist seine Gleichgültigkeit allem für ihn Unwesentlichen gegenüber.

Für Strickland ist die Kunst „das Erhabenste auf der Welt“. Am Ende des Buches werden die üppigen Wandgemälde in seiner tahitischen Hütte beschrieben: „Es war unbeschreiblich schön und geheimnisvoll. Es nahm ihm den Atem. … Er fühlte die Ehrfurcht und die Freude, die ein Mensch fühlen mag, der den Beginn einer neuen Welt sieht. Es war großartig, sinnlich, leidenschaftlich … Es war etwas Ursprüngliches und Schreckliches darin. Es war nicht menschlich. Es erinnerte ihn dunkel an schwarze Magie. Es war schön und obszön.“ Der Ich-Erzähler beklagt an einer früheren Stelle, dass man mit seinen Mitmenschen „nur mit Hilfe von Zeichen in Verbindung treten“ kann und die Aussage dennoch immer vage bleibt. Kunst kann diese „Reichtümer unseres Herzens“ übermitteln. Stricklands Leidenschaft ist „die Leidenschaft, Schönheit zu schaffen“, aber nur „wenigen Menschen ist es vergönnt, eine Arbeit in Angriff zu nehmen und zu vollenden“. Er hat es geschafft. Und das ist der beruhigendste Augenblick im ganzen Buch. Der schönste Satz: „Es war eine Nacht, so schön, dass die Seele das Gefängnis des Körpers kaum zu ertragen vermochte“.

Es ist ein kluges, psychologisch gut gefüttertes Buch mit vielen kleinen philosophischen Anklängen, amüsanten Wortwechseln, sympathischen Charakteren und sehr viel Wahrheit. Ein Mut machendes und aufrüttelndes Buch, das im Namen der Kunst steht. Dies ist ein Buch für alle, die den Wunsch nach künstlerischem Ausdruck verspüren, den Fängen von vermeintlichen Verpflichtungen und Konventionen aber nicht zu entkommen scheinen und auch für diejenigen, die sich an perfekt durchkomponierten, authentischen und doch in voller Widersprüchlichkeit erstrahlenden Charakteren erfreuen.

Es bleibt das Vertrauen in die Macht der Dinge, die sein müssen; es ankert das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, es hallt ein Hauch von Amüsement über die erfrischende Naivität der Jugend und der dahinter verborgenen, noch nicht erkannten Wahrheit.