14.06.2010
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
Die Veröffentlichung von Max Frischs drittem Tagebuch sorgte schon im Vorfeld der Veröffentlichung für die Diskussion, ob ein vom Autor bewusst zurückgehaltenes Dokument publiziert werden sollte oder nicht.
Ich plädiere in dieser Frage eindeutig für ein Ja! Seine dezente, bisweilen zärtliche, aber auch in Teilen sehr kritische Auseinandersetzung mit politischen und persönlichen Themen ist äußerst lesenswert. Mit altbekanntem verknapptem und lakonischem Stil kommentiert Frisch das Amerika unter der Führung von Ronald Reagan, in dem er lebt, seine Erinnerungen an die alte Heimat Schweiz, seine Empfindungen in Hinblick auf den bevorstehenden Krebstod seines Freundes Peter Noll, die zum Teil sehr berührend sind und reflektiert über das Verhältnis zu seiner jüngeren Frau Alice.
Der fragmentarische Charakter des Tagebuchs steht unter dem Motto „ich tausche Wörter gegen Wörter“ und die zum Teil sehr kurz gehaltenen Einträge können als Laboratorium der Reflexionen und Ideen betrachtet werden, die in ihrer Flüchtigkeit zum Weiterdenken anregen. Einige Stellen werden sogar zur Meditationsvorlage: „Mittag am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm, von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken“. Mit prägnanten, kurzen Sätzen erschafft Frisch an vielen Stellen ein intensives Bild seines Lebensraumes.
Trotz der Leitmotive Tod und Alter („ich bin alt, ich bin alt“) sind die Einträge nicht von Frischs Angst vor der bevorstehenden letzten Erfahrung geprägt, sondern kreisen um sehr berührende Gedanken über Philanthropie und Ehrlichkeit. Besonders die sehr zärtlich beschriebenen Begegnungen mit und Gedanken an seinen Freund Noll bleiben im Gedächtnis und vermitteln ein schönes, nachahmenswertes Freundschaftsbild.
Fazit: Ein schönes, ergreifendes Büchlein mit kleinen, sprachlichen Preziosen über den letzten Lebensabschnitt für alle, die an literarischen Entstehungsprozessen interessiert sind und ein Buch als Grundlage für weitere Reflexionen begreifen. Wer sich schon an Frischs „Fragebogen“ erfreut hat, wird mit diesem Buch auf seine Kosten kommen.