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Schönheit. Wahrheit. Emotion.

14.10.2013

Kunst als letzte Brücke in die Natur des Menschen

Kunst hat sich zu einem der finanziell vielversprechendsten kulturellen Subsysteme entwickelt. Kunst ist Kommerz und oberstes Distinktionsobjekt. Doch entspricht dies ihrem Wesen? Ein Plädoyer für den Erhalt von Schönheit, Wahrheit & Emotion.

Dem deutschen Sozialphilosophen Arnold Gehlen zufolge ist die (Bildende) Kunst eine archaische Form der Darstellung und zugleich eine kulturelle Tat von höchster Verdichtung. Mithilfe eines künstlerischen Ausdrucks überführt bereits der noch in Höhlen lebende Mensch einen Gedanken in die Kategorie des „Beisichbehaltens“ (Helmut Schelsky). Im Menschen existiert die als ganzheitlicher Komplex – intellektuell lediglich partiell – fassbare Welt nur als Idee, die mittels der Kunst zur Darstellung gelangt. Kunst ermöglicht den Blick in das innerste Selbst des Schaffenden. Gehlen weist (vor allem in seinem Werk „Urmensch und Spätkultur“ von 1956) der Darstellung einen Vorrang vor dem Begriff zu, denn die Darstellung überführt die Idee in einen dauerhaften Zustand. Ein Begriff von etwas spiegelt nur eine Meinung wider und kann ebenso schnell auch wieder verfliegen. Worte vergehen. Ein Kunstwerk bleibt.

Allerdings benötigt die Kunst etwas Außerbildliches, an das sie sich anlehnen kann, von der sie inspiriert wird: die Auseinandersetzung mit uns umgebender Wirklichkeit, Wissenschaft oder Natur. Diese Möglichkeiten der Anlehnung sind in der Gegenwart immer rarer geworden. So sind klassische Fotografien (ohne künstlerischen Anspruch) beispielsweise inzwischen viel präzisere Realitätsspiegel als Bildende Künste. Die Wissenschaft hat ihren Imaginationsmotor für die Kunst ebenso verloren, weil sie sich immer stärker ausdifferenziert und nur noch Spezialisten zugänglich ist. Und auch die Natur ist nicht mehr das, was sie mal war. Das ursprüngliche Verhältnis Natur-Mensch-Kunst ist aus den Angeln gebrochen. So bildet die Natur keine natürliche Umgebung des Menschen mehr ab, da er inzwischen im besten Fall im Großstadtdschungel kämpft – von virtuellen Welten ganz zu schweigen. Die ursprünglichen Inspirationsquellen der Kunst sind versiegt oder in die Tiefen unzugänglicher Subsysteme abgetaucht. Der Künstler ist ohne einen Außenhalt. Was bleibt, ist der Blick nach innen, dessen Darstellung im Expressionismus seine Geburtsstunde erfährt. Laut Gehlen ist die moderne Kunst von diesem Punkt an tot.

Zeitgenössische Kunst: Mausetot oder quicklebendig?

Im Gegensatz dazu scheint die Kunst der Gegenwart jedoch lebendig wie nie. Die Documenta 13 wollen mehr Besucher sehen als je zuvor. 860.000 sind im letzten Jahr nach Kassel gepilgert. Die Preise für die Neuen Meister und einige Gegenwartskünstler steigen ins Unermessliche und werden so schnell kein Limit finden, solange es Menschen gibt, für die Millionen zu Peanuts geworden sind. Künstler wie der Chinese Ai Weiwei ziehen dank der intensiven Nutzung von Twitter & Co. immer mehr Menschen in den Bann. Nie scheint Kunst so allgegenwärtig gewesen zu sein wie zum jetzigen Zeitpunkt. Diese Beliebtheit manifestiert sich in einer breiten und stetig wachsenden Schar von Messen, Galerien, Massenausstellungen und Kunstwochen. Zuletzt hat die Hauptstadt Ende September mit der zweiten Ausgabe der Berlin Art Week von sich reden gemacht. Die Veranstalter selbst werben: „Mit einem spannenden wie vielfältigen Programm aus hochklassigen Ausstellungen, Vernissagen, Veranstaltungen sowie zahlreichen Sonderprojekten und Begleitveranstaltungen der zehn beteiligten Institutionen sowie der Messeformate abc – art berlin contemporary und PREVIEW Berlin Art Fair wird die BERLIN ART WEEK auch 2013 wieder die ganze Kunst Berlins in einer Woche präsentieren und verspricht, das Kunstereignis des Herbstes zu werden.“

Chaos, Kitsch & Kunst zwischen Nordbahnhof und Gleisdreieck

Schon allein die Räumlichkeiten beider Messen, der abc und der PREVIEW, lassen einigen Aufschluss auf die janusköpfige Rolle zeitgenössischer Kunst zu. Während sich die art berlin contemporary in der Nähe des Gleisdreiecks in großzügigen Hallen professionell, sehr busy und ein wenig clean präsentiert und die Stände der einzelnen Galerien im selben Maße offen wirken wie ineinander übergehen, geht es auf der PREVIEW in der Nähe des Nordbahnhofs weitaus familiärer zu. Allein der Aufstieg ins Dachgeschoss zu den ehemaligen Malräumen der Opernwerkstätten durch das enge Treppenhaus mit DDR-Charme, das den Duft von Bürokratie verströmt und etwas Kafkaeskes hat, wirbelt die Erwartung durcheinander. Doch der Kunstfreund wird belohnt. Die in Reihen eng gestellten dreiwändigen Räume der Galerien umfassen Kunst und Publikum gleichermaßen und verdichten so die Atmosphäre. Ein kleiner Spaziergang durch das Angebot der Berlin Art Week, vor allem jenes der beiden Messen, führt zu einer Reihe von Erkenntnissen, Emotionen, aber auch Enttäuschungen. Ein Wort zuvor. Ein einziges Kunstwerk lässt die Autorin vor Verzückung für viele Minuten verharren und schwelgen und bleibt noch Tage im Kopf. Doch dazu später.

Triviale Reminiszenzen und intellektuell überladene Installationen

Mehrere Dinge sind augenscheinlich. Anklänge an etablierte und teilweise schon zu den modernen Klassikern gehörende Künstler – hier Beuys, Rothko oder Tillmans – sind mehr als auffällig und schmecken abgestanden. So präsentieren beispielsweise einige künstlerisch Schaffende Zeichnungen wie aus Beuys‘ Skizzenarchiv, die mit ihrem Prozesscharakter beim Meister noch authentisch wirken, in der Nachahmung aber vom Gekritzel und Gekrakel Vierjähriger kaum zu unterscheiden sind – weder technisch noch im Hinblick auf ihre Wirkung auf den Betrachter. Einige Werke zeigen sich als Kopien und Bruch-Teile von Alltagsgegenständen – ohne rahmenden Kontext. In Serien erzählen sie Geschichten, zu denen wohl nur der Autor Zugang hat. Gekrönt wird das Artefakt dann mit der unglaublich bedeutungsschwangeren Aufschrift „untitled“. Komplexe Installationen aus Versatzstücken des täglichen Lebens sorgen für nervenaufreibendes Kribbeln in den Fingerspitzen und einen kaum zu unterdrückenden Aufräumdrang. Die dem Künstler innewohnende Idee oder Emotion mag im Gleichklang der einzelnen Elemente funktionieren. Hier tut sie es nicht. Wenn dem künstlerisch Tätigen Gefühl oder Authentizität fehlen, drückt sich dies im Werk auch aus. Eine schematisierte, wissenschaftlich anmutende und theoriegeleitete Kunst ist das Ergebnis. Avantgarde ist gut und schön, aber der komplette Bruch mit den klassischen Regeln der Kunst stürzt Werk wie Betrachter schlichtweg ins Chaos. Das Spiel mit verschiedenen Materialien oder Genres inspiriert und erzählt, wenn die Baseline stimmt. Alles andere mutet an wie die fantastische Ausgeburt eines schizophrenen oder wahlweise drogenverschmutzten Hirns. Je gewollter die Arrangements beschaffen sind, desto mehr entfernen sie sich vom Kern der Kunst. Kunst kommt primär von Können, nicht von Wollen.

Manche Werke machen auf Klimt 2.0: Da wird gepixelt, fotografiert, collagiert und die Farbe hochgedreht, bis es in den Augen knallt. In der Malerei werden Schichten über Schichten geworfen, in der Hoffnung, dass der richtige Moment, die Erleuchtung, die perfekte Reinkarnation eines nicht verbalisierbaren Gedankens kommt, aber es kommt einfach nichts. Egal – Galerist und Käufer warten schon. Wieder andere Werke lassen beim Betrachter die Frage aufkeimen: Hatte der Künstler überhaupt physischen Kontakt mit dem Material? Clean mag cool sein, genuin wirkt‘s leider nicht. Hier und da stellt sich die Frage: Ist bloßes Sammeln und Arrangieren Kunst oder darf’s auch eine Botschaft haben? Irgendwann ist sich der kunstaffine Besucher sicher: Es gibt mindestens zwei Künstlertypen: Der intrinsisch Motivierte betrachtet l‘art pour l’art, der extrinsisch Agierende macht l’art pour la glorie oder l’art pour l’argent. Dem einen ist die Kunst die einzige Möglichkeit, dem ruhelos-schmerzhaften Verlangen nach Ausdruck, dem unstillbaren Drang der Verwirklichung eines unbestimmten, die Seele quälenden Gefühls, Herr zu werden. Der andere will Beachtung. Dies mag die Konsequenz einer überdrehten, von Geld regierten und unnahbaren Gegenwart sein, doch es gibt Hoffnung.

Hoffnungsträger in Zeiten des Hyperkapitalismus

Einige der Arbeiten bilden kleine, feine Inseln im Meer der zu Aufmerksamkeitsheischenden Demonstrationsobjekten degradierten Kunstwerke. Erstens zeigen einige Künstler, dass es weiterhin Innovationspotential gibt und die Kunst sich in Bezug auf ihre Sujets und ihre Techniken noch nicht erschöpft hat. So fallen beispielsweise Mehrfachbearbeitungen von Materialien auf. Da wird geritzt, geklebt und gemalt und eine Tiefendimension geschaffen, die an optische Täuschungen grenzt. So experimentiert beispielsweise Heike Jeschonnek mit Paraffin und Öl auf Nessel und erzeugt hauchzarte Szenarien, die gleichermaßen apodiktisch wie zerbrechlich wirken. Ebenfalls für positive Irritationen sorgen Pastellzeichnungen, die auf mittlerer Distanz wie Fotografien anmuten oder das Spiel mit Perspektiven, wie der Schwede Jens Fänge mit seinem sehr dynamischen, dreidimensionalen Gemälde „Das Schauspiel“ beweist. Er erschafft einen Spielraum, malt über Eck und setzt dem dargestellten Interieur Bilder auf, deren eigenwillige Perspektive das moderne Leben zu charakterisieren scheint.

Filigrane Kompositionen zeugen von Hingabe

Filigrane Arbeiten im Stile von Kupferstichen verzaubern ebenso wie akribisch zusammengesetzte, großformatige Bilder, die bei näherer Betrachtung aus Tausenden von Strichen, Punkten und Linien komponiert sind. Eine ganz besonders raffinierte Kreation mit ideengeschichtlichem Hintergrund gelingt Brigitte Waldach mit zauberhaft leichten und doch tiefgründigen Zeichnungen und dem Versuch, philosophische Ideen in figürliche Bilder zu gießen. Zart gehauchte oder fett gedruckte Worte verdichten sich zu Landschaften poetischer Art mit Titeln wie „Denken (Hannah Arendt)“. Michael Schuster gestaltet mit getrockneten Blattgerüsten in „twenty nine moments“ kleine Figuren, die sich die Welt erobern. In echtes Staunen versetzt der Künstler Torsten Enzio Richter mit hauchfeinen Bleistiftzeichnungen, die das dargestellte Objekt an Präzision noch zu übertreffen scheinen. So kann man den Blick kaum vom Abbild eines ausgegrabenen, verrosteten Dolches nehmen, dessen Anblick im Kopf das Geräusch klirrender Klingen aufbaut.

Gedankenräume und Zeitlosigkeit

Bedrückend und ergreifend ist Nasan Turs „Bautzener Straße 112A“. Fotos der Gefängnistüren aus der Perspektive der Gefangenen sind in einem Raum aufgehängt, so groß wie die Zelle, in der der Insasse vom Draußen abgeschirmt wird. Der Leipziger Tilo Schulz arrangiert in einer Serie schwarze Striche in verschiedenen Größen und Längen, die wie DNA-Sequenzen anmuten und von dichttriefend bis hingehaucht reichen. Ein ebenfalls besonders Erlebnis verschafft dem Betrachter der Berliner Timo Klöppel mit seiner Installation „Licht ist in der kleinsten Hütte“ (2012), die eine Brücke zur Architektur schlägt. Ein aus alten Altbau-Fenstern gezimmerter, begehbarer Lichtquader umhüllt den Kunstinteressierten mit einer famosen Lichtqualität und einem eigentümlichen Klima. Hier fehlen nur noch Couch, Pflanzen, eine Kanne Tee und ein gutes Buch – fertig ist eine Oase in stürmischen Zeiten. Ergreifend schön sind die Arbeiten von Lita Cabellut, die auf der Berlin Art Week Bilder von Charlie Chaplin präsentieren durfte, deren anspruchsvolle Maltechnik den Betrachter in längst vergangene Zeiten entführt.

Inspirationsreiche Potpourris

Vor einiger Zeit hat Lady Gaga einem Journalisten in den Block diktiert, dass sie sich bei der Auswahl ihrer extravaganten und die Grenze der Kunst berührenden Kostüme von künstlerischen Ideen inspirieren ließe. Die Pop-Prinzessin scheint auf den Kroaten Lovro Artukovic aufmerksam geworden zu sein. Sein (noch unvollendetes) Öl-Bild „Ari im Trash-Kostüm“ erinnert an die neuesten modischen Eskapaden der Amerikanerin. Neben der Präsentation von Arbeiten einzelner Künstler bringt sich vor allem der Kunstverein Familie Montez wirkungsmächtig ins Spiel. Mit einer üppigen Petersburger Hängung bis unter die Decke präsentieren die in Frankfurt/M. ansässigen Kunstmacher ein sattes Potpourri an Bildern, das ganz im Gegensatz zu den kargen Präsentationen vor allem bei der abc steht. Ein Besucher spricht beim Anblick das Wort „Augenerektion“ aus. Die ideensatten, technisch abwechslungsreichen Bilder spiegeln das Gefühl eines popkulturell gesättigten Menschen wider und ziehen in einen Strudel aus Anklängen und Interpretationen einer entgrenzten Welt.

Kunst für alle – mit Vergnügen!

Trotz einiger Highlights bleibt am Ende der Berlin Art Week ein Unbehagen. Die offensive Kritik an gesellschaftlichen Missständen mithilfe der Kunst ist zu plakativ und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Plagiat und Chaos verleiden die Betrachtung. Sich gegenseitig verschluckende Audio-Installationen reiben an den Nerven. Um Beachtung bettelnde Kunst ist unangenehm. Demonstrative Gesellschaftskritik gehört ins Feuilleton. Kunst sollte archaisch-allumfassende Erfahrungen und Gefühle ausdrücken und frei von intellektuellem Ballast sein, damit sie zum Erlebnis aller werden kann. Echte Kunst kommt direkt aus der Seele des Menschen. Sie ist Darstellung eines Gefühls. Wo kein Gefühl, da kein Mensch. Wo kein Mensch, da keine Kunst.

Der kürzlich verstorbene Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat auf die Frage, ob Literatur philosophisch, pädagogisch oder vergnüglich sein sollte, eine eindeutige Antwort gehabt: Es geht nur ums Vergnügen. Literatur soll unterhalten. Gilt das nicht auch für die Kunst? Ist es nicht um Schönheit, Wahrheit und Gefühle? In seinen Vorlesungen über die Ästhetik schreibt Hegel im dritten Kapitel (Die Idee des Schönen): „Das Schöne bestimmt sich … als das sinnliche Scheinen der Idee.“ Und wenn Schönheit Idee sei, dann sei Schönheit auch Wahrheit, weil das Schöne „wahr an sich selbst sein“ muss.

Kunst als letzte archaische Kategorie

Der intensivste Moment des Betrachtens entsteht beim Werk „Ray of light“ der in Berlin lebenden Fotografin Heike Mardo. Ein Arrangement von 13 Fotos in Vintage-Rahmen fängt den zauberhaften Facettenreichtum des Lichts auf eine Weise ein, der zum Träumen verlockt und den Trubel ringsherum vergessen macht. Vielleicht ist es das, was Kunst im Zeitalter von Hyperkapitalismus und Hochgeschwindigkeitsprozessen leisten sollte. Je stressiger das postmoderne Leben in einer ungeduldigen Gesellschaft, desto größer der Wunsch nach Ruhe und Kontemplation. Es ist die Wahrheit des Schönen, die für Augenblicke das nervöse Leben abschirmt und einen kleinen Raum der Besinnung schafft. Erinnern wir uns an Gehlen. Ein Kunstwerk kann eine verbal nicht formulierbare Idee oder ein Gefühl des Künstlers ausstrahlen, auf den Betrachter übertragen und in ihm verankern. Dies hat schon dem Urmenschen gegolten. Kunst ist die vielleicht letzte archaische Kategorie, die der Fortschritt noch nicht komplett aufgeweicht hat.

Es wäre schön, sie würde es bleiben.