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Sprach(t)räume: Wittgensteins Konzept des „Sprachspiels“ und Bachmanns „Sprachtraum“ am Beispiel der Konkreten Poesie (Abschlussarbeit, 2010)

Der spanische Maler Pablo Picasso spricht dem französischen Dichter François Ponge gegenüber seine Bewunderung der Dichtkunst mit folgenden Worten aus: „Sie, mit Ihren Wörtern, das ist wie kleine Spielfiguren, wissen Sie, so kleine Statuetten, jedes Wort dreht sich und hat mehrere Gesichter, und sie beleuchten sich gegenseitig“ (Höllerer 1967: 467). Diese Worte generieren einen Tanz- und Spieltraum vor dem geistigen Auge. Eugen Gomringer, der „Vater“ der Konkreten Poesie, sieht im Dichter einen „Sprachformer und Sprachdirigenten“ (Heinrichs 1973: 80), der die Wörter zum Tanzen und den Leser zum Träumen und Spielen bringt. Und auch Friedrich Schiller ist überzeugt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Safranski 2009: 65). Das Spiel ist also seit jeher ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Daseins, „das Spiel der Kunst ermuntert den Menschen, mit allen seinen Kräften zu spielen – mit Verstand, Gefühl, Einbildungskraft, Erinnerung und Erwartung“ (Safranski 2009: 46). Doch der später in dieser Arbeit noch eine wesentliche Rolle spielende Ludwig Wittgenstein weiß auch: „(D)er Begriff ‚Spiel’ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern“. Diese Zitate indizieren die Bedeutung, aber auch die Unschärfe des Spielbegriffs in der Kultur, dem immer ein Traum voraus geht und es wird zu zeigen sein, welche besondere Rolle Spiel und Traum im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, der Konkreten Poesie, inne haben.

Die Konkrete Dichtung beschreibt nicht primär eine Gattung der Lyrik, sondern kann als eine Spielart, als eine besondere Betrachtung von Sprache gesehen werden. Hier stehen nicht Schilderungen von Be- und Gegebenheiten im Vordergrund; die Sprache wird vielmehr selbst dargestellt.

Mit dieser Arbeit möchte ich nach einer Einführung in die Thematik, welche die Entwicklung der Poesie seit dem Beginn der lyrischen Moderne umreißt, die Lyrik innerhalb eines gesellschaftspolitischen Rahmens positionieren und darstellen, wie das traditionell naturwissenschaftliche Experiment in die Sprache findet, um sich dort zu etablieren. Im zweiten Kapitel („Artikulationsspielräume“) werde ich die Vorläufer der Konkreten Poesie beschreiben und anschließend erörtern, wo und wie Konkrete Dichtung und speziell Konkrete Poesie verortet sind. Darauffolgend möchte ich darstellen, welche Spielarten drei verschiedene Lyriker vorschlagen. Eugen Gomringer findet in seinen Konstellationen ein Mittel, Worte miteinander zu verbinden, realisiert und versteht darunter „die Gruppierung von wenigen, verschiedenen Worten, so daß ihre gegenseitige Beziehung nicht vorwiegend durch syntaktische Mittel entsteht, sondern durch ihre materielle, konkrete Anwesenheit im selben Raum“ (Hartung 1975: 40). Claus Bremer, der neben Gomringer als Begründer der Konkreten Poesie gilt und sich aus der traditionellen Lyrik heraus entwickelt hat, gibt den dieser Dichtung innewohnenden subjektiven Ausdruck auf und sich dem „methodischen Spiel“ hin. Seine Worttafeln werden „aleatorischen und permutationellen Variationen“ (Hartung 1975: 39) unterworfen und er lädt den Leser somit zu einem Spaziergang innerhalb seiner Texte ein: Die Gedichte in Tabellenform erfahren eine Öffnung, die verschiedene Variationen ermöglicht. In ähnlicher Weise bietet Franz Mon mit seinem experimentellen Werk und hier speziell in seinen Artikulationen dem Leser ebenfalls unterschiedliche Lesarten an: „In ihnen wird der Materialcharakter von Sprache nach der lautlichen und artikulatorischen Seite bestimmt“ (Hartung 1975: 51).

Weiterhin möchte ich mich im zweiten Hauptteil der Arbeit näher mit den beiden Hauptwerken Ludwig Wittgensteins, dem Tractatus logico-philosophicus (1921) sowie den Philosophischen Untersuchungen (1953) beschäftigen. Zum einen beziehen sich sowohl Helmut Heißenbüttel, ebenfalls Konkretist, als auch Eugen Gomringer in ihren Texten direkt auf den frühen Wittgenstein, indem sie vor allem Zitate des Philosophen in ihr Werk aufnehmen. Ebenso gibt es eine Reihe von Autoren, wie z. B. den Kulturtheoretiker Hans-Jürgen Heinrichs, welche die Konkrete Poesie vom Tractatus beeinflusst sehen. Die Wirkung der Philosophischen Untersuchungen – die sich in Teilen gegen die Thesen des eigenen Frühwerks wenden, vor allem in Bezug auf die Definition der Funktion von Sprache – auf die Konkrete Poesie findet in der Literatur ebenfalls Zustimmung. Wittgenstein ist der Meinung, dass die Welt erst in der sprachlichen Darstellung differenziert wird. Der Begriff des Sprachspiels, der durch ihn geprägt wird, lässt sich auf die „destruktiven Absichten“ der Dichter der Konkreten Poesie übertragen. Sie sehen sich als „Spielverderber“, „um neue Spielmöglichkeiten zu entdecken“ (Haas 1990: 247). Die Konkrete Poesie findet ihre dichterische Funktion durch die Abstrahierung und Isolierung einzelner, Aussagen darstellender, Wörter aus dem Sprachspiel. Die somit abgelöste Äußerung wird dadurch genötigt, Teil eines neuen Sprachspiels zu werden, um einen (neuen) Sinn zu finden.

Die Lyrikerin und Schriftstellerin Ingeborg Bachmann fühlt sich – besonders über dessen Anerkennung des Unsagbaren – von Wittgensteins Werk sehr angesprochen und hat sich auch in Aufsätzen theoretisch mit ihm beschäftigt (Bachmann 1974: 277-288). Ihre Arbeiten, die in erster Linie Lyrik und Essays, aber auch einen Roman umfassen, setzen sich stark mit dem Problem Sprache auseinander. Sie träumt einen Sprachtraum, einen „Ausdruckstraum“ und konstatiert: „Wir besitzen sie [die Sprache] als Fragment in der Dichtung, konkretisiert in einer Zeile oder einer Szene, und begreifen uns aufatmend darin als zur Sprache gekommen“ (Bachmann 1980: 95). Ich möchte Bachmanns Sprachtraum aus ihren Frankfurter Vorlesungen und ihrem Roman Malina herausarbeiten und bestimmen, inwieweit dieser Traum in der Konkreten Poesie realisiert wird.

Im letzten Hauptkapitel („Die Beseitigung des „geistigen Nebels“: Die neue Bedeutungsfähigkeit der Sprache“) werde ich die vorangegangenen Darstellungen noch einmal kurz zusammenfassen und die Eingangsfragestellung, inwieweit die Konkrete Poesie Wittgensteins Auffassung vom Sprachspiel und Bachmanns Utopie vom Sprachtraum verwirklicht, beantworten. Die Arbeit soll mit einem Ausblick auf die Möglichkeiten der Konkreten Poesie in der Gegenwart und denkbaren Anschlusspunkten an das Thema vollendet werden.


* Höllerer, Walter (1967) (Hg.): Ein Gedicht und sein Autor. Lyrik und Essay. Literarisches Colloquium Berlin.
* zitiert nach Heinrichs, Hans-Jürgen (1973): Spielraum Literatur. Literaturtheorie zwischen Kunst und Wissenschaft. München: Boorberg.
* Safranski, Rüdiger (2009): Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt a. M.: Fischer.
* Hartung, Harald (1975): Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
* Haas, Wolf (1990): Sprachtheoretische Grundlagen der Konkreten Poesie. Stuttgart: Hans-Dieter Heinz Akademischer Verlag.
* Bachmann, Ingeborg (1974): Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte. In: Gedichte. Erzählungen. Hörspiel. Essays. München: Piper.
* Bachmann, Ingeborg (1980): Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Piper.


Diese Arbeit entstand im Rahmen meines Studiums.
Bei Interesse schicke ich den Volltext gern per Email zu (siehe Kontaktformular).