web analytics

— Hide menu

Die deutsche Sprache: Verfall oder natürlicher Wandel?

20.07.2011

Den Kritikern des Sprachverfalls stehen Optimisten gegenüber, die den Wandel als völlig normal erachten. Eine Debatte in deutschen Feuilletons.

Fast zwei Drittel der Deutschen glauben, dass die deutsche Sprache dem Verfall preis gegeben ist, wie das Meinungsforschungsinstitut Allensbach 2008 herausgefunden hat. Was sagen meinungsführende Medien zu diesem Thema? Eine Stichwortanalyse in den online verfügbaren Feuilletons der überregionalen Zeitungen „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) und der „ZEIT“ hat zu einer Reihe von Argumenten und Gegenargumenten zum Verfall der deutschen Sprache geführt. Was wird genau kritisiert? Was sind die Ursachen des Sprachverfalls? Findet denn ein Niedergang des Deutschen überhaupt statt oder handelt es sich lediglich um einen natürlichen Wandlungsprozess, den alle anderen Sprachen auch durchleben? Und vor allem: Wie kann gegen den Sprachverfall vorgegangen werden?

Welche Elemente charakterisieren den Sprachverfall?

Die bedeutendste Kraft, die zu einem Verfall der deutschen Sprache führt, so die Pessimisten, ist der Einfluss des Englischen sowie die Diffusion mündlicher und schriftlicher Elemente, vor allem beim Schreiben von Emails und Texten im Chat, die zu einer Destandardisierung der deutschen Sprache führen. Zudem machen Kritiker die vielfältigen sprachlichen Mischformen für den Wandel verantwortlich, deren Einfluss Deutschland als Zuwandererland unterliegt. Weitere Kritikpunkte sind die „Anglisierung der Universitäten“. Durch die Internationalisierungsbestrebungen werden Studiengänge sukzessive ins Englische übertragen und die Unterrichts- und Kommunikationssprache an hiesigen Universitäten ist vielerorts kaum noch deutsch. Dies führt zu einer Art „Statusverlust“ des Deutschen und endet in einem „Rückzug des Deutschen aus prestigereichen Diskursen“ (G. Deutscher, SZ). Doch nicht nur im Hörsaal findet der Rückzug unserer Sprache statt. Auch im Internet und in Chefetagen wird zunehmend weniger Deutsch genutzt. Schon vor 12 Jahren hat Doris Marszk in der ZEIT „Abkürzungen, Vulgarismen“ und eine „verhunzte Syntax“ kritisiert, die im schlimmsten Fall zu einer „Gossen- und Ghettosprache“ führt.

Was sind die Ursachen des Sprachverfalls?

Thomas Steinfeld hat einige Ursachen des Sprachverfalls herausgearbeitet („Wir haben fertig“, SZ, 08.2009). Seine Kritik hat im Wesentlichen zwei Dimensionen. Einerseits beklagt er eine „Mutlosigkeit“ und mangelnde Leidenschaft der Deutschen ihrer Sprache gegenüber. Zum anderen sieht er die Bildungspolitik, die sich den internationalen Maßstäben unterwirft als wesentlichen Motor dieses Wandels. In einem anderen, wenige Wochen zuvor publizierten Artikel macht Steinfeld die Rechtschreibreform für den Verfall verantwortlich, der zu Unsicherheiten führt. In diese Kerbe schlägt auch Jens Bisky, der dem Staat eine „Regulierungssucht“ unterstellt („Das wäre doch gelollt“, SZ, 03.2007). Auch die Korrekturhilfen bei PC-Schreibprogrammen verführen zu einer mangelnden Auseinandersetzung. Etwa zur gleichen Zeit sieht Wolfgang Krischke ganz andere Ursachen („Hamsamsa ohne Darwin“, FAZ, 07.2009). Auf der einen Seite ist er der Meinung, dass der Drang nach Normierung die wesentliche „Triebkraft“ des Wandels ist. Diese Tendenz zur Simplifizierung konstatiert er in vor allem in Gesellschaften mit hohen Sprecherzahlen, die vergleichbar viele Sprechkontakte haben. Je kleiner die Gemeinschaft, desto komplexer die Syntax. Guy Deutscher sieht vor allem kulturelle Gründe („Genug gebellt“, SZ, 09. 2008). Der Rückgang des Deutschen ist immer noch an das Trauma der Ära des Nationalsozialismus gekoppelt und mit einem „Schamgefühl“ verbunden. Daran geknüpft sieht Deutscher eine Überbewertung des Fremden (wie des Englischen), ein ungenügendes Selbstbewusstsein und damit verbunden eine mangelnde Schätzung der eigenen Kultursprache. Andreas Kilb (FAZ, 2008) sieht folgende Gründe: Es wird erstens zu wenig und vor allem zu Anspruchsloses gelesen. Zweitens fragmentieren SMS und Email die Sprache. Drittens macht er die Medien und die mangelnde Vermittlung der Sprache durch die Eltern für den Sprachverfall verantwortlich.

Ist der Sprachverfall vielleicht ein Sprachwandel ganz natürlicher Art?

Vor allem Linguisten sehen die Veränderungen, die das Feuilleton seit über zehn Jahren beklagt als sehr positiv. Sie begrüßen das „schöpferische Potential“ und den „ökonomischen Minimalismus“, die Sprachtrends mit sich bringen („Vollkommen nutzlos für den Unterricht“, FAZ, 08.2009). Die „Verschleifung und Vereinfachung indogermanischer Sprachen“ ist kein Kurs der letzten Jahre, sondern wirkt schon seit Jahrhunderten kontinuierlich. Die Sprache bildet gesellschaftliche Modifikationen einfach nur ab. So führt der „Wunsch nach Expressivität“ zur Nutzung von „Verstärkervokabeln“, wie beispielsweise „geil“, ein Wort, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts „üppig“ bedeutet hat. Tanja Dückers hat einige wesentliche Argumente gegen den Verfall dargestellt („Mal ein Lungenbrötchen reinziehen“, ZEIT, 06.2008). So ist Sprache eben etwas Lebendiges und sie formt und ändert sich, so wie sich auch Menschen und Tiere an neue Umweltbedingungen anpassen. Sie zitiert den Schriftsteller Otto Violan: „Wörter werden geboren. Sie welken und sie sterben“ und stellt fest, dass der sogenannte Sprachverfall gar nicht existiert, sondern nur als solcher wahrgenommen wird, so wie früher ohnehin alles besser war. Studierende der Katholischen Universität Eichstätt haben in einer Analyse von Jugendwörterbüchern herausgefunden, dass hinsichtlich des prozentualen Anteils von Anglizismen in der Jugendsprache zwischen 1992 und 2001 keine signifikanten Veränderungen zu erkennen sind. Und auch der „Wortwart“ Lothar Lemnitzer sieht in seinen Analysen, dass es vor 50 Jahren nicht mehr Anglizismen gegeben hat als heute. Zudem hat er kein einziges Beispiel für eine „ruinierte Sprache“ zur Hand. Dass sich Sprache wandelt, zeigt, dass sie noch am Leben ist. Die Bedürfnisse von Menschen ändern sich und die Sprache passt sich daran an. So hilft beispielsweise die englische Sprache, Dinge differenzierter auszudrücken, wie Jens Bisky beschreibt. Ein „Job“ meint nicht Arbeit und „Kids“ sind keine Kinder.

Wie kann die deutsche Sprache gerettet werden?

Sprache kann nicht konserviert werden, erst recht nicht in einer globalisierten Welt. Doch der Tendenz zur Verknappung und Anglisierung kann im Kleinen Einhalt geboten werden. Ein ZEIT-Leser gibt in einem Brief (Nr. 33, 2007) den wohl besten Ratschlag: „Sprache gedeiht herrlich, wenn man geistreich mit ihr flirtet“. Eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Deutschen, der Sprache der Dichtung, der Philosophie und der Wissenschaft, führt zur Bewusstmachung des unglaublichen Reichtums dieser Sprache, die als Distinktionsmerkmal in der amerikanischen Oberschicht zurzeit sehr in Mode ist. Der Einfluss von Germanismen, also deutschen Lehnwörtern in fremden Sprachen, ist weitreichender als mancher denken mag. Bislang sind deutsche Wörter in 39 anderen Sprachen nachgewiesen. Und Claus Leggewie schlägt vor, bedeutende, englische Wissenschaftstexte in nicht-englische Sprachen zu übersetzen, um die Hegemonie des Englischen einzudämmen („Anglais oblige?“, ZEIT, 07.2007).

Und nicht zuletzt: Ob Schiller oder Goethe, Thomas oder Heinrich, Hesse oder Musil, Frisch oder Bachmann – Die Lektüre der üppigen deutschsprachigen Literatur wird vor Augen führen, wie vielseitig und einzigartig unsere deutsche Sprache ist und bleiben wird, wenn wir dies wollen.