web analytics

— Hide menu

Rezension: Tomas Espedal, „Wider die Natur“ (2014)

14.05.2014

Ein Mann wird älter. Er verliebt sich in eine junge Frau. Sie beginnen eine Affäre. Die junge Frau verlässt den älteren Mann. So beginnt der Klappentext des zweiten in deutscher Sprache erschienenen Buches des Norwegers Tomas Espedal.

Ein einziger Satz im Roman fasst die Misere des Protagonisten zusammen: Die große Liebe, und das mit achtundvierzig, das ist lebensgefährlich. Und sogleich touchiert er das zweite große Thema dieses vergleichsweise schmalen Büchleins: Das Alter kommt eines Nachts und bläst dir Eis in den Mund. Reflexionen über das Älterwerden flankieren die Liebesgeschichte, die größtenteils eine Leidensgeschichte ist. Auf den letzten vierzig Seiten des Buches mündet die Metamorphose der Liebesqual in tagebuchartige Notizen, die je nach Gemütsverfassung mal Stakkato, mal Legato sind.

Und noch ein großer, philosophischer Gedanke schiebt sich zwischen die Seiten. Espedal geht es um die Frage: Was ist „wider die Natur“? Was ist widernatürlich? Richtet sich die Natur hier gegen den Willen des Individuums? Oder lebt der Mensch gegen den Willen der Menschheit – der Gesellschaft? Was ist natürlich und was nicht? Ein Leben zu leben, das den gesellschaftlichen Konventionen entspricht? Das Leben desjenigen zu leben, den man liebt, obwohl es nicht dasjenige ist, das man leben will? Bei Espedal klingt das so:

Er blies in seine Trompete und mich traf der Gedanke, wie falsch ich lebte, so schwach und feige, so still und vorsichtig.

Der Abstand zwischen dem Menschen, der ich war, und dem, der ich sein wollte, war zu groß.

Vielleicht kommt es anders, vielleicht ändert sich alles, das wäre natürlich.

Der Anfang beginnt mit dem Ende. Nachdem die Hauptfigur Tomas von seiner jungen Geliebten verlassen ist, sinkt er in die Vergangenheit und passiert seine früheren Lieben. Seine erste Liebe. Dann: Seine Frau, die ihm bereits wenige Wochen nach der Heirat emotional abhanden kommt, die später stirbt und ihm die gemeinsame Tochter hinterlässt. Auch sie wird von ihm gehen, ihr eigenes Leben leben: Ein Mann von bald fünfzig, der von seiner Tochter verlassen wird; was soll er machen, was soll er unternehmen?

Espedal zieht den Leser von der ersten Seite mit einer lakonischen und doch tiefschichtig anrührenden Sprache in seine Geschichte hinein. Die häufig lyrische Melodie der Sätze umspült den Leser und trägt ihn fort. Der Autor erzählt von der Liebe, vom Älterwerden, vom Loslassen und Festhalten in einer Eindringlichkeit und Klarheit, wie sie leider viel zu selten ist. Auch wenn er an eine reichhaltige Tradition anknüpft, die den Altersunterschied in der Liebe thematisiert (Abelard & Héloïse, Duras‘ Liebhaber, Nabokovs Lolita), präsentiert er dem Leser doch eine neue, intensiv funkelnde Facette der oft erzählten Geschichte vom alten Mann und der jungen Versuchung. Er ergötzt sich an ihrer Schönheit, Jugendlichkeit, Naivität, trinkt von ihren unschuldigen Lippen, saugt den frischen Duft ihres weißen Busens. Sie schaut zu ihm auf, durchdrungen von seiner Weisheit und Erfahrenheit, betört von seiner Gier nach ihr, empfänglich für seine Geschichte(n). Beide eint hier die Liebe zur Literatur, zum Gespräch, zur Stille der Natur. Ja, es wird still. Zu still. Sie geht – in die Stadt.

Die Notizen am Ende des Buches skizzieren die Leidensgeschichte des verlassenen Liebenden. Schock. Schmerz. Sehnsucht. Versunkenheit. Verwahrlosung. Habe mich seit einer Woche nicht gewaschen, bin ganz rein. Werde reiner und reiner. Tomas Espedals kompromisslose Darstellung führt zu einem (neuen) Nachdenken über das in der Welt wohl am meisten Bedachte: die Liebe. Ist sie eine Illusion? Kann man noch jemanden anderen lieben, wenn man sich selbst schon liebt? Ist dann Liebe eigentlich nicht mehr als nur bloße Zuneigung? Beweint man sich selbst oder den, der gegangen ist oder die Leere, die bleibt oder das Scheitern einer Idealvorstellung? Wann ist es grausamer? Beim ersten Mal, wie im Cat-Stevens-Song? Oder wie bei Espedal in den späteren Jahren, umhüllt vom anfänglichen Glauben, gegen Liebesabstürze gefeit zu sein? Und: Gibt es ein rücksichtsloseres Gefühl als den Liebesschmerz? Ja, sagt er: Am schlimmsten ist es, wenn er vergeht.

Das Ende erinnert ein wenig an jenes des ebenfalls kürzlich erschienen Romans „Das Versteck“ von David Finck. Nach der virtuos gesteigerten Spannung macht sich auf den letzten Seiten ein wenig Unzufriedenheit breit. Vielleicht Empörung. Es beginnt die Suche nach einem Hintersinn. Da geht die Frage auf, ob etwas überlesen wurde oder ob im Übersetzungsprozess eine entscheidende Doppeldeutigkeit verloren gegangen ist. Doch möglicherweise ist dies ein guter Schluss. Man denkt nach und fragt weiter, auch wenn das Buch bereits zu Ende ist.

Tomas Espedal: „Wider die Natur“, Matthes & Seitz Berlin, 180 Seiten.