03.09.2010
Im Werk des Künstlers Joseph Beuys sowie des Philosophen Arthur Schopenhauer spielt das Leiden eine zentrale Rolle: Leid als Leben und Leben als Leid.
Die Fähigkeit des Menschen zur Reflexion führt zur Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Seins und macht die Welt, in der er lebt, zur „schlechtesten aller möglichen Welten“, wie der deutsche Philosoph Schopenhauer es formuliert hat. Dieser Pessimismus ist der Grundstein seiner Philosophie. „Er hat dem Lebensgefühl des modernen, aufgeklärten Menschen einen neuen Aggregatzustand des Seins gegeben“ (Lothar Schröder).
Arthur Schopenhauers Pessimismus
Schopenhauers pessimistische Weltsicht, die sich in der „Nichtigkeit des Daseyns“ manifestiert, spitzt sich in der Aussage, dass „alles Leben Leiden“ ist, zu. In einer sehr lesenswerten Einführung in das Denken Schopenhauers nimmt der Philosoph und Autor Volker Spierling Bezug auf „das Leiden, das dem Leben als Leben innewohnt“ und sieht, Schopenhauer folgend, als Mittel, sich aus diesem leidvollen Dasein zu befreien, die Kunst. Er führt fort, dass das, was durch die Kunst dargestellt wird keine Illustration der individuellen Begierden ist, sondern dass mittels der durch Kunstrezeption gewonnenen Erkenntnis der von Schopenhauer als Wesen der Welt formulierte Wille für einen Augenblick annulliert wird. Da Schopenhauer der Meinung ist, dass es ohne Willen keine Vorstellung und keine Welt gibt, entsteht durch die Betrachtung eines Kunstwerkes ein leerer Raum, in dem sich das Leid für einige Momente verliert. Der Betrachter wird erlöst, aber der Motor des Künstlers bleibt das Leid. Dies ist auch ein zentrales Moment der Kunst des Deutschen Joseph Beuys.
Das Leiden des Joseph Beuys
In einem Vortrag von Joachim Kardinal Meisner im August 2007 zitiert dieser Beuys mit den Worten: „Der Mensch muss zunächst einmal das durchmachen, was Christus selbst durchgemacht hat“ und so ist auch das Kunstwerk Beuys’ dominiert von Leiden und Tod. Beuys hat zum Ende des 2. Weltkrieges existenzielle Erfahrungen mit Schmerz und der Allgegenwärtigkeit des Todes gemacht. Die Legende, dass er 1943 über der Krim abgeschossen worden war, stilisiert er zum Schlüssel zu seinem Werk. Die Wunden des schwer Verletzten wurden mit Fett versorgt und er wurde in Filz gebettet. Beide Materialien spielen im Werk Beuys’ eine bedeutende Rolle.
Installation „Zeige Deine Wunde“
In seiner Rauminstallation „Zeige Deine Wunde“ (1976) beschäftigt sich Beuys intensiv mit Krankheit, Leid, Alter und Vergänglichkeit und bekräftigt vier Jahre später in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass eine schonungslose Auskunft über eine Krankheit die Bedingung dafür ist, sie heilen zu können: „Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden“. Wo sich andere Künstler mit dem Ziel, das Publikum zu erstaunen oder zu erfreuen, zufrieden geben, geht Beuys noch einen Schritt weiter und konfrontiert den Betrachter auf eine schonungslose Weise mit dem „Elend der Welt“ (Pierre Bourdieu). Die Installation besteht aus einem klinisch wirkenden Raum, einem Krankenzimmer ähnlich, der mit fünf Objekten in doppelter Ausfertigung ausgestattet ist. Leichenbahren, mit Fett bestrichene oder gefüllte Blechkästen, die mit Fieberthermometer und Reagenzglas bestückt sind, sind Bestandteile dieses Kunstwerkes.
Die Autorin Martina Merten macht in einer Arbeit über Beuys’ Skulptur „2 Musikanten“ („der größte Komponist (ist) derjenige, der leidet“) auf ein Zitat des Künstlers aufmerksam, in jenem er feststellt, dass das Leiden eine höhere Geistesstufe generiert und fortführt, dass das Leid im Leben eines Mensch auch seine Vorzüge hat. Denn in erster Linie führt Leid zu Auseinandersetzung, im zweiten Schritt zu Veränderung. Der Wille nach künstlerischem Ausdruck ist in der Phase des Leids stärker als in einem Zustand der Freude, was durch den größeren Anteil an melancholischen gegenüber euphorischen Liebesliedern bestätigt werden kann.
Das Leid als Bedingung für Kreativität
In einem Gespräch mit dem Theologen Horst Schwebel spezifiziert Beuys seine Behauptung, dass das Leid der Anfang der Kreativität ist, weil das Leiden „eine ganz wichtige Art der Hervorbringung“ ist und unterscheidet die schöpferische Aktivität des Menschen in das Tun und in das Erleiden und bestimmt, dass „derjenige, der am entschiedensten etwas erleidet, auch derjenige (ist), der am entschiedensten etwas schafft“. Somit kehrt er Schopenhauers Maxime um: Leiden ist Schöpfung, Leiden ist Leben.
Das Leid als Kunstform: Christoph Schlingensief und Ai Weiwei
In der Tradition der Versymbolisierung des eigenen Leidens als Kunstwerk steht auch der kürzlich verstorbene deutsche Künstler Christoph Schlingensief. Ein Jahr vor seinem Tod hatte das umstrittene Multitalent, das mit einer geradezu beunruhigenden Produktivität unter anderem als Regisseur, Autor und Künstler tätig gewesen ist, die eigene Krebserkrankung als Oper („Mea Culpa“) am Wiener Burgtheater inszeniert und zur gleichen Zeit sein Tagebuch veröffentlicht, das seine Krebserkrankung thematisiert. Das individuelle Leid wird zur zentralen Bühnengestalt.
Diese Radikalität einer Verkreuzung von Kunst und persönlichem Leid ist auch für den chinesischen Konzeptkünstler Ai Weiwei typisch. Nachdem er im letzten Jahr in einem Hotelzimmer von Polizisten zusammengeschlagen worden war, weil er sich für die Erdbebenopfer von Sichuan einsetzen wollte, schickte der Sohn eines während der Kulturrevolution inhaftierten und daraufhin ins Exil gegangenen Schriftstellers Fotos von seinen Kopfverletzungen mit dem Handy um die Welt und konstatierte dies als „reale Kunst“.
„So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“
Was Arthur Schopenhauer schon vor mehr als 150 Jahren als wesentliches Element des Lebens ausgemacht hat, haben Joseph Beuys und sich auf ihn berufene Künstler mit ihren Werken dargestellt. Der oft gelingende Versuch, das Publikum zu schockieren, zu verstören und mit der Flüchtigkeit des Daseins zu konfrontieren, verweist auf die Möglichkeit und Dringlichkeit, sich mit den Ängsten vor dem eigenen Schmerz auseinanderzusetzen und ihn somit bloßzustellen. Ein ins Licht getriebenes Gespenst verliert seinen Schrecken. Wer den ranzig-fauligen Geruch der Begegnung mit dem Tod oder einem existenziellen Schmerz nicht geatmet hat, wird nicht in der Lage sein, in die höchsten Sphären der Glückseligkeit aufzusteigen. Oder, wie Christoph Schlingensief es formuliert hat: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“.
Quelle: Volker Spierling (2002): Arthur Schopenhauer zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.