13.12.2010
Carsten Höller reüssiert mit einer sehr ungewöhnlichen Ausstellung im Hamburger Bahnhof (Berlin) und widmet sich dem mythischen Trank Soma.
Das Berliner Museum für Gegenwartskunst, der Hamburger Bahnhof, präsentiert seit Anfang November und noch bis zum 6. Februar 2011 ein ganz besonderes Kunsterlebnis. Das Museum ist für seinen Wunsch nach Intensität, Expressivität und der Möglichkeitsdarbietung zur Interaktion zwischen Werk und Rezipient bekannt. Die Institution schreibt sich selbst auf die Fahnen, das Bewusstsein seiner Gäste in neue Sphären heben und neue Zugänge zur Kunst schaffen zu wollen. Mit dieser einzigartigen Installation scheint der Hamburger Bahnhof mal wieder den richtigen Riecher gehabt zu haben. Allein im November kamen 30.000 Besucher.
Vogelgezwitscher und Zoogeruch im Museum
Schon beim Betreten des Museums wird man von unerwarteten Empfindungen heimgesucht. Vogelgezwitscher und Zoogeruch schlagen dem Zuschauer entgegen. Sofort gerät der oft würdevolle Rahmen einer Kunstausstellung aus den Fugen und weicht einer Irritation. Und diese Verwirrung scheint die Grundvoraussetzung für die Rezeption dieser Installation. Der in Brüssel geborene Agrarwissenschaftler und Künstler Carsten Höller ermuntert in seiner Installation „Soma“ den Betrachter, an seinem Kunstwerk teilzunehmen und sich neuen ästhetischen wie gefühlsbetonten Erlebnissen hinzugeben. Das macht den Zugang zu diesem Kunstwerk auch etwas schwieriger als sonst. Der Zuschauer muss sich einlassen. Kontemplation ist Bestandteil des Zaubertranks Soma.
Die Installation „Soma“ in der Haupthalle des Hamburger Bahnhofs
Die bislang „komplexeste und aufwändigste“ Installation von Carsten Höller, der auch schon im New Yorker Guggenheim und in der Tate Gallery London ausgestellt hat, nimmt die großzügig angelegte Haupthalle des Hamburger Bahnhofs gänzlich in Anspruch. Eine Mittelachse teilt den Raum in zwei voneinander getrennte Gehege, in denen sich zu gleichen Teilen zwölf Rentiere in der Gesellschaft von 24 Kanarienvögeln tummeln, die sich in riesigen an der Decke hängenden Volieren befinden. Außerhalb des Geheges halten sich in dafür vorgesehenen Aufbewahrungsbehältern noch acht Mäuse und zwei Fliegen auf. Der amerikanische Bankier und Hobbymykologe Gordon R. Wasson, auf den sich Höller beruft, glaubt einer 1968 veröffentlichten Studie zufolge, dass ein Bestandteil des Zaubertrankes Soma der Fliegenpilz ist. Der psychoaktive Wirkstoff des Pilzes wird mit anderen Substanzen, wie Milch oder dem Urin einer Person oder eines Tieres aufgenommen. Dieses Tier, so die Vermutung, könnte das Rentier sein, da der Fliegenpilz auf dem Speisezettel der domestizierten Hirsche steht, die in erster Linie in Nord-Eurasien, Nordamerika, aber auch auf Grönland und den arktischen Inseln beheimatet sind. Der Kanarienvogel steht für Freiheit, für die Schönheit des Gesangs, für Fantasie, weitschweifende Gedanken und Ideen – aber auch für das Alltägliche. In vergangenen Zeiten wurde ein aufgeschnittener, in Milch eingelegter Fliegenpilz als Fliegenfänger genutzt. Der Fliegenpilz nimmt gefangen. Die Mäuse können für Aufgewühltheit und Verwirrung stehen. Diese Dialektik von labyrinthischem Chaos und Beschaulichkeit spiegelt die Wirkung von Drogen wider.
Die Beschreibung Somas in hinduistischen Schriften
Im Eingangsbereich wird eine Verszeile aus der Rigveda, dem ältesten Teil der Veden, einer Textsammlung, die zugleich die Gründungsschrift des Hinduismus ist, zitiert: „Wir haben das Soma getrunken; wir sind unsterblich geworden, wir haben das Licht gesehen; wir haben die Götter gefunden“. Die über den Fliegenpilz gewonnene Glücksdroge Soma verspricht in diesen Schriften Erleuchtung, Reichhaltigkeit und Überfluss, die Möglichkeit eines Eintretens in göttliche Sphären, aber auch Siegeskraft. Die Suche nach den Ingredienzien dieses Getränks hat eine lange Geschichte. Linguisten haben sich mit der Suche nach der Identität von Soma ebenso beschäftigt wie Botaniker und Ethnologen und dennoch wird uns die Zusammensetzung des Getränkes, ähnlich des Ambrosius aus der griechischen Mythologie, wohl für immer verborgen bleiben. Auch Carsten Höller kann das Geheimnis nicht lüften, nähert sich mit diesem in die Kunst übertragenen naturwissenschaftlich anmutenden Experiment aber hermeneutisch an.
Eine Annäherung an die Wirkung von Soma
Auf einer der Installation vorgelagerten Tribüne wie auch längs der Gehege erhalten die Besucher die Möglichkeit, dem Treiben in Ruhe zu folgen. Sie können die Rentiere auch hinter verspiegelten Glaswänden in Ruhe beobachten, ihnen beim lethargischen Fressen und Ruhen oder beim Spielen zuschauen. Mit etwas Glück werden sie den spielerischen Kämpfen der Tiere folgen oder einfach nur ihre ruhige Schönheit genießen. Der Stallgeruch sowie das unaufhörliche Zwitschern der Kanarienvögel, die ausstrahlende Ruhe der Rentiere, die aufgeregte, irritierte und interessierte Betrachtung der Besucher schafft einen Rahmen, der dem Zuschauer die Möglichkeit bietet, die Wirkung eines Zaubertrankes zu erahnen. Die unwirkliche Verbindung dieser, vor allem für Stadtmenschen, außergewöhnlichen Bedingungen schafft eine ganz besondere Atmosphäre, die es zu genießen lohnt – eine ausgefallene und ganz spezielle Erfahrung, die keiner Drogen bedarf.
Eine Nacht zwischen den Rentieren
Der Hamburger Bahnhof offeriert seinen Besuchern zudem ein Erlebnis der ganz besonderen Art und verlost eine exklusive Nacht im Museum auf einem Hochbett inmitten des Geheges.
Quelle: Ausstellungsprospekt des Hamburger Bahnhofs (2010).