17.01.2011
Vor fast zweieinhalb tausend Jahren schwärmte Platon: „Wenn es etwas gibt, wofür es zu leben lohnt, dann ist es die Betrachtung des Schönen“. Und dieses Schöne entfaltet sich in voller Pracht nicht nur in der Natur, sondern auch in der Kunst, im Theater oder in der Musik. Doch spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert, der Zeit des Dada und des Surrealismus, tritt die Subversion auf den Plan und tritt gegen die Schönheit an. Vor knapp hundert Jahren verstanden sich Dadaismus und Surrealismus als eine Avantgarde, die sich in revolutionärer Weise, verbunden mit einer starken Skepsis, gegen die bürgerliche Gesellschaft wandte und ebenso scharfe Kritik an den kulturellen und sozialen, aber auch politischen Bedingungen ihrer Zeit übte. Die Künstler mahnten die Entfremdungstendenzen innerhalb der modernen Zivilisation und das damit verknüpfte rationale Verhalten der Bürger an. Denn diese Rationalität löse ein Zwangsverhalten aus, das die Menschen in Unfreiheit führe und ihnen die Möglichkeit verwehre, sich fantastischen und imaginatorischen Reisen und der damit einhergehenden Kreativität hinzugeben. Und heute? Die Grenzen der Bürgerlichkeit sind aufgebrochen, Diversität ist das Zauberwort der Stunde, die Gesellschaft geriert sich liberal und märchenhafte Reisen finden im Internet oder im Kino statt – das Verlangen nach Rationalität und eine ausgeprägte Protestkultur sind allerdings geblieben.
Subversive Kunst ist heute im Mainstream angekommen. Gerade auf der Bühne hat man gelegentlich das Gefühl, dass sich ohne Radikalität, ohne Provokation und ohne nackte Leiber nichts mehr vermitteln lässt. Die einen mögen noch begeistert sein, den meisten aber treibt es nur ein gelangweiltes Gähnen hervor, dem der Verdruss folgt. Genauso wie ehemalige Tabuthemen (Drogenkonsum, Depressionen, Promiskuität oder Homosexualität) gesellschaftsfähig geworden sind, so hat auch die unangepasste Kunst die Mitte der Gesellschaft erreicht. Subversion ist zu einem Lebensstil geworden. Die Entstehung einer Utopie, die alle künstlerischen Bemühungen antreibt, fußt aber auf dem Wunsch nach und die Existenz einer gesellschaftspolitischen Alternative. Solange diese nicht vorhanden ist, wird es auch keine „neue“ Kunst geben. So wie die mannigfachen Lebensformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in jeglicher Hinsicht in kleine Nischen kriechen und sich in Mikrosysteme zersplittern, Spezialisierungen immer skurrilere Blüten treiben, so wird auch die Kunst ohne eine gemeingültige, die Mehrheit ansprechende Botschaft keinen gemeinsamen Nenner mehr finden können. Lediglich die Medien und der Kunstmarkt werden diktieren, was Kunst zu nennen und wie teuer sie zu bezahlen ist, aber wird sie uns neben ihrer intellektuellen Mission wirklich nahe kommen können? Wird sie begeistern, berauschen, erregen, erschüttern, uns packen, uns erbeben und zittern lassen? Sie wird es tun – wenn der natürliche Höhepunkt eines sich selbst beschleunigenden Wachstums erreicht ist.
Vor fast 200 Jahren entwickelte sich nach dem Wiener Kongress eine Kulturepoche namens Biedermeier – ein Rückzug in die Idylle; in die Landschaftsmalerei (Adolph Menzel und Carl Spitzweg), in die Hausmusik oder in die (Wiener) Kaffeehäuser. Vielleicht führen die sich selbst potenzierende Hektik des Alltags, Mobilitäts- und Flexibilitätsfetischismus und die kaum noch nachvollziehbare Geschwindigkeit sich permanent selbst ersetzender technischer Errungenschaften wieder zu einem Rückzug ins Private – ein gesellschaftlicher Burn-Out, der in eine Ruhephase und die Sehnsucht nach Schönheit und Kontemplation mündet, ein Verlangen nach Vollendung und Harmonie in der Musik oder in der Kunst.
Einer, des Lebens in der westlichen Zivilisation überdrüssig, der dem musikalischen Fremden erlag und ihm folgen musste, ist der Amerikaner Louis Sarno. Er lebt nun schon seit über 25 Jahren im Kreise eines Pygmäenstamms, nachdem er ihre Gesänge im Radio gehört hatte, wie Michael Obert in einem Artikel des ZEIT-Magazins (03/11) berichtet: „Diese fremdartigen Harmonien machten mir damals Gänsehaut, sie wirkten hypnotisch auf mich – pure Magie“. Diese sphärischen Klänge, ein Geflecht von sich absenkenden und wieder in unendliche Höhen aufsteigenden Tönen, spiegeln das Leben in der Natur, vor allem in den unerschöpflichen Weiten des Waldes wider: Sie sind die sich im Wind bewegenden Zweige, das Rauschen und Rascheln des ineinander verzweigten Grüns der Bäume. Louis’ Mutter beschreibt ihn als einen, der „immer alles genau wissen und herausfinden“ wollte, der nach „Antworten auf die großen Fragen (…) in den ursprünglichen Formen der Musik und der Natur“ suchte. Die BAaka, der Pygmäenstamm, orientieren sich in der unergründlichen Unendlichkeit ihres Dschungels an den Geräuschen der Wasserläufe, am Knarren der Bäume, am Gesang der Vögel und an den Melodien des Windes – Töne, die zur wesentlichen Inspiration ihrer Musik geworden sind. Sarno selbst sieht diese Musik als „Ausdruck dieses akustischen Weltverstehens“. Warum fühlte er sich derart von dieser Musik angezogen, dass er die USA, sein Leben und den alltäglichen Luxus der zivilisierten Welt hinter sich ließ und im tiefsten Dschungel Zentralafrikas Teil der BAaka-Gemeinde wurde? Was schwingt zwischen diesen Tönen, die ihn noch heute so tief berühren? Die Natur ist eine wesentliche Inspirationsquelle dieser Musik. Ihre Gewaltigkeit, ihre Schönheit, ihre Unberührtheit oszillieren zwischen den Lauten. Sarno suchte möglicherweise unbewusst nach einem Ort wie diesem und sah ihn in der Musik dargestellt. Diese Musik berührte eine vielleicht tief in seinem Inneren verborgene Sehnsucht nach Freiheit, nach Lebendigkeit und Ursprünglichkeit und so sprang er durch das Fenster in eine ihn endlich beruhigende Welt.
Der Opernsänger Rolando Villazón sang im November des letzten Jahres in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau ein Lied über das Wesen der Kunst: „Kunst öffnet ein Fenster. Sie kreiert einen Ort, an dem wir einen Widerhall finden: für unsere Ängste, für unsere Melancholie, für unsere Traurigkeit und für unsere Freude. Kurzum: ein Bild des Menschlichen.“ Wenn ein Künstler ein authentisches Werk schafft, trägt es einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit mit sich. Die Künstlerin Louise Bourgeois sah die Kunst als Möglichkeit, ein persönliches Defizit zu sublimieren, eine unbehagliche Erinnerung zu verarbeiten. Spricht uns das Kunstwerk nicht an sich an, sondern die subtile individuelle Botschaft der Persönlichkeit, die es geschaffen hat? Ist dieser Teil des Charakters auch ein Teil von uns, der unbewusst angesprochen wird? Sehen wir uns im Kunstwerk selbst und sind deshalb so ergriffen?
Kunst ist ein Bild des Menschlichen. Die unsichtbare Verbindung, die ein ergreifendes Bild zwischen ihm und einem Individuum erschafft, entspricht dem Wesen der Freundschaft: Das Bild versteht uns und wir verstehen das Bild. Doch zurück zur Utopie der Kunst. Kunst ist als vom Individuum geschaffenes Kulturgut ein Spiegel der Gesellschaft und so wie sich die Menschen, zumindest in der westlichen Zivilisation, sich in wesentlich zwei Welten zu Hause fühlen, wird sich vermutlich auch die Kunst der Zukunft in zwei oder drei Sphären aufteilen: auf der einen Seite die plakative, subversive, provokative, aufreizende, nach Aufmerksamkeit geifernde Kunst eines Damien Hirst (der als einer der jüngsten wichtigsten zeitgenössischen Künstler zugleich der reichste ist) oder Jeff Koons, die das stetige wirtschaftliche und technische Wachstum reflektiert und nur den Weg an die Spitze kennt, auf der anderen Seite die schöne, sich mit philosophischen und ästhetischen Themen auseinandersetzende Kunst eines Gerhard Richter oder Peter Doig; und vielleicht noch die gesellschaftspolitisch oder psychologisch verortete Kunst, die auf die Entfremdungstendenzen des Individuums und seine Rolle in der Gesellschaft hinweist wie Bruce Nauman dies tut oder deren Schöpfende als aufmerksame Beobachter ihrer Welt versuchen, mit Hilfe der Kunst „die Welt zu erkennen“, wie Wolfgang Tillmans das formuliert hat.
Kunst wird sich in Zukunft in unterschiedlichen Rahmen bewegen und den Menschen entweder als Prestigeobjekt, also als Legitimation ihres kulturellen Habitus’ dienen oder sie wird auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Missstände hinweisen, wie das zum Beispiel die Street-Art tut. Für einen, zumindest im Augenblick, verschwindend geringen Teil der Rezipienten und Schaffenden wird Kunst allerdings bleiben, was sie im Wesentlichen ist und immer war: ein Ausdruck des Schönen, Ästhetischen, des Ergreifenden, eine Darstellungsart des Nichtdarstellbaren, ein Medium, das zu religiöser Ergriffenheit führen kann – ein Bindeglied zwischen seinem Schöpfer und seiner individuellen Farbpalette aus mannigfaltigen expressiven Schattierungen und kognitiven Nuancen und denjenigen, die der Farblosigkeit der von Rationalität, Wachstum und Kapital dominierten Welt entflohen sind.
Sicher ist eines: Der Preis, mit dem ein Kunstwerk der Gegenwart etikettiert wird, ist kein Hinweis auf die subjektive Qualität des Bildes, sondern lediglich ein Beispiel für die Macht des Marktes sowie der Medien und die damit verbundene Produktion von Simulacra, die für die Postmoderne typisch sind. Einige Künstler werden in Zukunft auf mit Kapital gepflasterten Pfaden wandeln, doch einige werden uns weiterhin berühren. Denn: Wenn es etwas gibt, wofür es sich zu leben lohnt, dann ist es die Fähigkeit, die Empfindung der Gefühlsseligkeit erfahren zu können – durch berührende Töne: leise und laute, helle und dunkle.