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Charakterbildung durch Literatur: Das Beispiel Anton Reiser

10.08.2010

Der Romanheld Anton Reiser wächst ohne Zuneigung und Achtung auf und flieht in die Welt der Bücher. Wie prägen diese seinen Charakter?

Der von Karl Philipp Moritz verfasste, autobiographisch gefärbte, in vier Bänden zwischen 1785 und 1790 veröffentlichte Roman „Anton Reiser“ mit dem Untertitel „Ein psychologischer Roman“ beschreibt den Werdegang eines Jünglings in der Zeit des Sturm und Drang.

Kindheit und Jugend

Der Roman beschreibt die Kindheit und Jugend des Titelhelden Anton Reiser, der in einem streng religiösen, quietisch-pietistischen, von Krankheit, Armut und Streit geprägtem Elterhaus aufgezogen wird. Er wächst ohne Zuneigung, Achtung oder Interesse seitens seiner Familie und unter der dauernden Zwietracht seiner Eltern auf. Niemals erhält er Liebkosungen oder Lob. Als er in seinem achten Lebensjahr lesen lernt, entfacht dies seine Leidenschaft für die Literatur, denn das Lesen bereitet ihm äußerstes Vergnügen, eröffnet ihm die Welt und entschädigt ihn für die Atmosphäre der Einsamkeit, des Hasses und der Unterdrückung. Anton wird schon früh nach Braunschweig geschickt, wo er beim Hutmacher Lobenstein eine Lehre absolvieren soll. Die ständigen Ausbeutungen, Demütigungen sowie die eintönige und harte Arbeit bringen ihn bis zu einem Selbstmordversuch. Er kehrt nach Hannover zurück, wo er in einer Armenschule aufgenommen wird. Dort werden die Lehrer und insbesondere Pastor Marquard durch seinen Fleiß auf ihn aufmerksam. Der Pastor fördert ihn und biete ihm die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, das von einem adeligen Gönner finanziert wird. Anton möchte Theologie studieren. Als die Eltern aus der Stadt ziehen, lebt er fortan allein und ist auf Freitische bei verschiedenen Leuten angewiesen. Durch diese Abhängigkeit fühlt er sich unwohl und gedemütigt, weil er glaubt, lästig zu sein. Das zarte Selbstbewusstsein des ohnehin schon introvertierten und sensiblen Antons wird zerstört; er wird deprimiert, melancholisch und scheut die Menschen.

Bücher als Tröster

Und so werden seine Bücher, in denen er Zuflucht findet, zu Freund und Tröster. Je abstoßender und unerträglicher seine Wirklichkeit wird, desto mehr flüchtet er sich in Romane, Tragödien und seine ideale Bücherwelt. Das glückliche Leben in dieser Parallelwelt, der Wunsch nach Anerkennung und Beifall sowie die Faszination für das Theater führen dazu, dass er sich entschließt, die Schule zu verlassen und Schauspieler zu werden. Aber es gelingt Anton nicht, in der Theaterwelt Fuß zu fassen. Nach einer langen Reise und endlosen Fußmärschen auf der Suche nach einer Schauspielgruppe muss er am Ende schmerzlich erfahren, dass sich diese aufgelöst hat.

Das Kind Anton Reiser vereint so ziemlich alle Eigenschaften in sich, die ihm den Weg eines klassischen Versagers zu ebnen scheinen. Die in erster Linie aus familiärer Verwahrlosung entstehende sozial-emotionale Inkompetenz drückt ihm den Stempel des ewigen Verlierers auf. Angst, Isolation, Komplexe, Krankheit und Zweifel beherrschen ihn.

Phantasie und Einbildungskraft

Auch wenn der Zweck seiner Lesewut in erster Linie Ablenkung und Kompensation ist, bilden sich im Laufe der Jahre sowohl positive als auch negative Begleiterscheinungen heraus, die Antons Persönlichkeit beeinflussen. Anton entwickelt schon sehr früh eine starke Phantasie und Einbildungskraft. Die Masse der Literatur, Neugier und Ehrgeiz, sich tiefer in Themen einzuarbeiten, ebnen ihm den Weg zu einer weit gefächerten Bildung. Durch das systematische Erarbeiten von Wissen, gerade im Bereich der Beschäftigung mit wissenschaftlichen und philosophischen Themen, wird seine Denkkraft kontinuierlich ausgebaut. Die intensive Beschäftigung mit unterschiedlichen Werken innerhalb eines Genres schärft seine Urteilskraft. Anton trägt sehr viele ideale Eigenschaften theoretisch in sich, aber er ist mangels sozialer Erfahrung nicht in der Lage, sie umzusetzen.

Teufelskreis der Isolation

Der Teufelskreis der Isolation kann durch die einsame Lektüre nicht durchbrochen werden. Denn jeder Kontakt nach außen, der immer und immer wieder in Enttäuschungen mündet, führt ihn zurück in die fiktive Bücherwelt. In einem Zitat von Elke Schmitter heißt es: „Was wir über den Menschen wissen, kommt aus Erfahrung und Literatur“. Und weil Anton die Erfahrungen mit der wirklichen Welt so gut wie versagt bleiben, wird er nie genug über die Menschen und damit sich selbst erfahren, um seine „kranke Seele“ zu heilen.

Karl Philipp Moritz: „Anton Reiser“, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2001.