03.02.2011
Louise Bourgeois war eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit und lebte ihre Kunst viele Jahre nur privat – ein Appell an die Beharrlichkeit.
Wenn ein politisches Magazin wie EMMA einer Künstlerin einen detaillierten und sehr persönlichen Artikel widmet, hat das einen Grund. Der Anlass, die Französin zum Gegenstand einer inspirierenden und ermutigenden Geschichte über eine Frau in einer Männerdomäne zu machen, sind die Themen, mit denen sich die Künstlerin beschäftigt und die einen erheblichen Teil ihrer künstlerischen Ausdruckskraft ausmachen. In Bourgeois‘ künstlerischem Kosmos kreisen Mutterliebe, Rebellion gegen den Vater und ein Interesse an der Pathologie des Menschlichen um den leidenschaftlichen Wunsch, das Leben zu dokumentieren
Das Leben der Louise Bourgeois – eine alltägliche Geschichte
Bourgeois, geboren 1911, wuchs in eine Zeit hinein, in der es noch nicht üblich war, Mädchen und Frauen gleichberechtigt zu sehen und ihnen beispielsweise eine Hochschulausbildung anzuerkennen. Louise wuchs mit dem Bewusstsein auf, „nur“ ein Mädchen zu sein und so sagt sie auch selbst: „Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten fünfzig Jahre, für alle meine Themen ist in meiner Kindheit zu suchen“. Schon im Kindesalter schrieb und zeichnete sie in nahezu obsessiver Manier. Gerade erwachsen geworden, verlor sie mit 20 Jahren ihre Mutter, nachdem sie zehn Jahre lang mit hatte ansehen müssen, dass der Vater das Kindermädchen zur Geliebten gemacht hatte. Um sich vom Vater abzugrenzen, sympathisierte sie meist mit dem Gegenteil seiner Ansichten, egal ob politisch, sozial oder intellektuell. Sie heiratete einen amerikanischen Kunstprofessor, folgte ihm ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten und gebar ihm drei Söhne. Und während sie tagsüber ihre Familie versorgte, widmete sie sich nachts ihren künstlerischen Vorlieben – etwa fünfzehn Jahre lang von der Kunstwelt unbeachtet. Louise Bourgeois starb im Mai 2010 in New York im Alter von 98 Jahren.
Die Kunst, zu überleben: Das Werk der Künstlerin
Das wohl bekannteste Werk von Louise Bourgeois sind riesige Spinnen aus Bronze, die Eier aus Marmor gebären – als Symbol für die Mutter. Die Spinne „Maman“ ist heute vor dem Guggenheim in Bilbao zu sehen. Es ist vor allem die Experimentierfreude, die Bourgeois’ Œuvre charakterisiert. Sie war die erste Künstlerin, die Installationen schuf, indem sie ihre Skulpturen in einen inhaltlichen und räumlichen Zusammenhang brachte. Ihre bedeutendsten Installationen sind beispielsweise die verstörende, fast gespenstische Dekonstruktion des Vaters („The Destruction of the Father“, 1974 oder „The Reticent Child“, 2003), die im Kern die empfundene Verachtung für den Vater und die tiefe Liebe zur Mutter widerspiegeln. „Das schweigsame Kind“ besteht aus sechs Skulpturen aus Stoff und Marmor, die Schwangerschaft, Geburt und die ersten Entwicklungsstadien des Kindes darstellen. Auch in den vielbeachteten Installationen „Cells“ (2006), die einerseits auf die organische Einheit Zelle als auch auf das Eingesperrtsein anspielen, bringt Bourgeois den Betrachter, ähnlich wie auch Bruce Nauman, in eine beklemmende, klaustrophobische Situation, führt ihn in kleine imaginäre Häuser, in denen er sich mit Hausfrau-stereotypischen Objekten, wie beispielsweise aufgehängter Wäsche, konfrontiert sieht.
Lieber spät als nie: Die erste Retrospektive für eine Frau im Museum of Modern Art
Relativ spät erst wird sie erfolgreich, doch dann mit Gewalt. Nach ihren ersten Ausstellungen um 1979/80 erhält sie schon 1982 eine Retrospektive im Museum of Modern Art: als erste Frau. Ihre größten Erfolge sind die Ehrung durch die Japanese Art Association, die ihr 1999 den Praemium Imperiale verlieh sowie ihre Auftritte in Kassel (1992) und Venedig (1993), mit denen sie internationale Aufmerksamkeit erregte. Louise Bourgeois hat mit ihrem Werk ihre eigene Kindheit verarbeitet und ihr größter Verdienst besteht vielleicht darin, mit diesen verstörenden Bildern darauf aufmerksam zu machen, dass das Leid ein zentraler Motor für das künstlerische Schaffen sein kann. Kunst kann Seelennot und Entbehrungen sublimieren und anderen, die diese Fähigkeit nicht haben, einfach nur Trost spenden oder den Betrachter mit einer Urangst konfrontieren, um ihn aufzurütteln, damit er sich im besten Fall mit seiner eigenen auseinandersetzt. Beachtenswerte Kunst muss nicht wie bei Jeff Koons oder Damien Hirst zum öffentlichen Spektakel werden, Kunst kann auch dezent und gleichzeitig nicht minder ausdrucksstark sein.
Quelle: „Die potente Künstlerin“ (2002), in EMMA (Ausgabe Mai/Juni)