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Futurismus, Surrealismus & Dadaismus: Revolution in der Literatur

01.09.2010

Wie haben Futurismus, Surrealismus und Dadaismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts unsere Kultur nachhaltig verändert und beeinflusst?

Der deutsche Kritiker und Essayist Helmut Heißenbüttel sieht drei Entwicklungen als Basis für die Entstehung neuer literarischer Formen, besonders des Gedichts. Seiner Meinung nach legen der Begründer des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti mit seinem 1912 erschienenen Manifest, der französische Lyriker Guillaume Apollinaire mit seinen „Calligrammes“ sowie der deutsche Dichter Kurt Schwitters den Grundstock für die Entwicklung neuer literarischer Gestaltungsformen. Weiterhin erwähnt Heißenbüttel mit dem Kubismus eine Richtung, die von Pablo Picasso begründet wird und den Übergang zur abstrakten Kunst kennzeichnet.

Der Futurismus (1909 – 1944)

Der Futurismus kann als bewusst irrational, aggressiv und destruktiv beschrieben werden und weist darauf hin, dass diese Strömung nicht nur die Literatur im Blick hat, sondern ebenso auf eine Veränderung der Gesellschaft zielt, die mitsamt ihren verschiedenen Teilsystemen wie Politik oder Wirtschaft eine futuristische Prägung erhalten soll. Die aggressiven Elemente dieser umstürzlerisch gesinnten Avantgarde machen sich natürlich auch im literarischen Programm bemerkbar. So ruft z. B. Marinetti in seiner Schrift „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ (1912) dazu auf, die Syntax im bisherigen Stil aufzugeben, Verben nur im Infinitiv zu benutzen, auf Adjektive und Adverben zu verzichten und die Interpunktion zugunsten von mathematischen Zeichen aufzugeben. Die Futuristen sprechen sich für substantivistische Verdopplungen aus und wollen das subjektivistisch-psychologische Ich ausmerzen, um einen Ausdruck zu erreichen, der nur für sich selbst sprechen soll.

Ziel des Futurismus

Oberstes Ziel des Futurismus ist es, einen neuen poetischen Typus zu kreieren, indem einzelne Wörter und nicht in gebräuchlicher Syntax miteinander verbundene Wortgruppen auf der Blattfläche verstreut werden. Aus den unterschiedlichen Schriftgrößen und aus verschiedenen Richtungen lesbar sollte auf diese Weise ein neuer Sinnzusammenhang gestiftet werden. Das bis dahin klar geordnete Schriftbild wird somit zerstört, Wortgruppen werden bisweilen durch Fremdelemente, wie mathematische Zeichen und Bilder, neu definiert. Der dadurch entstehende eher bildhafte Ausdruck zeigt auch die Verwandtschaft mit dem Kubismus, der ebenso die gegenständliche Darstellung zugunsten der Abstraktion aufgegeben hat. Einige Kubisten gliedern Textelemente in ihre Bilder ein. In seinem 1912 veröffentlichten Manifest “Lo splendore geometrico e meccanico e la sensiblità numerica” geht Marinetti noch einen Schritt weiter und proklamiert auf eine radikale Weise die Auflösung der linearen, sprachlichen Darstellung, spielt mit Satzfetzen, verteilt Wörter und einzelne Buchstaben frei auf der Textfläche. Der dritte Artikel des Gründungsprogramms des Futurismus bringt die Angriffslust auf den Punkt: „Wir wollen preisen die (…) Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag“.

Der Dadaismus (1916 – 1923)

Der Dadaismus ist dem Futurismus nicht unähnlich, da er von ihm wesentlich beeinflusst wird. Auch die für diese Literaturströmung bekannten Lautgedichte Hugo Balls können als Schriftbilder gelesen werden. Ball selbst bezeichnet den Dadaismus als „Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“ und den Dadaisten als „kindliche(n), donquichottische(n) Mensch, der in Wortspiele und grammatikalische Figuren verwickelt ist“. Hier spielt der Zufall eine große Rolle, die Wörter werden wahllos arrangiert und von diesen Arrangements soll eine neue Realität ausgehen, wie es einer der Begründer des Dadaismus, Richard Huelsenbeck, im Dadaistischen Manifest (1918) formuliert: „(M)it dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte“. Ähnlich dem Futurismus ist der Dadaismus eine Protestbewegung, die gegen den weimarischen Geist propagiert. Mit Hilfe einer autonomen Ästhetik und individualistischen Zügen wird versucht, mit innovativer Dichtung die Moderne „ad absurdum zu führen oder zu zerstören“ (Karl Riha).

Der Surrealismus (1920 – 1933)

Der Surrealismus geht Anfang der 1920er Jahre von Frankreich aus und versteht sich ebenfalls als eine Avantgarde, die sich in revolutionärer Weise, verbunden mit einer starken Skepsis, gegen die bürgerliche Gesellschaft wendet und ebenso scharfe Kritik an den kulturellen und sozialen, aber auch politischen Bedingungen ihrer Zeit übt. Der Surrealismus, der ähnlich wie auch Futurismus und Dadaismus Literatur und Kunst miteinander zu verbinden sucht, mahnt die Entfremdungstendenzen innerhalb der modernen Zivilisation und das damit verknüpfte rationale Verhalten der Bürger an. Diese Rationalität löst ein Zwangsverhalten aus, das die Menschen in Unfreiheit führt und ihnen die Möglichkeit verwehrt, sich fantastischen und imaginatorischen Reisen und der damit einhergehenden Kreativität hinzugeben. Diese Kreativität, die ein üppigeres Leben als durch die rein logische Herangehensweise garantiert, wird allerdings durch die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen unterdrückt.

Sigmund Freuds Einfluss auf die Literatur

Weiterhin charakteristisch für den Surrealismus ist der offenkundige Einfluss der Traumdeutung von Sigmund Freud. Die Auseinandersetzung mit dem Traum und seinen irrationalen, metaphernreichen und assoziativen Elementen sowie dessen Entfaltung in unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, beeinflusst als Ausdruck des Unbewussten, als Quelle neuer Wahrnehmung die Vorstellung von einem Modell der automatischen Schreibweise. Bretons „écriture automatique“ revoltiert wiederum gegen die Beengung der Weimarer Republik. Der Surrealismus schreibt sich eine radikale Veränderung von bourgeoisen Wahrnehmungsmustern und Lebensentwürfen auf die Fahnen und macht es sich zum Ziel, die verkrustete Gesellschaft aufzubrechen und zu räumen, sie zu verwandeln, um eine neue Welt zu schaffen, die offen ist für dynamische Experienzen, für fantasiereiche, schöpferische Prozesse und Gefühle. Ganz im Sinne Freuds werden das Spiel, der Traum und die Fantasie propagiert, als Kompensationstechnik gegen eine kalte und enge Wirklichkeit.

Der Einfluss von Futurismus, Surrealismus und Dadaismus

Zusammenfassend lässt sich also beschreiben, dass diese drei literarischen wie künstlerischen Strömungen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Teil in die Kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs hineindauern, einerseits eine politische Seite haben, die auf einen Gesellschaftswandel zielt und sich als eine Protestbewegung verstehen. Sie benutzen andererseits die Sprache als Mittel, um ihre Skepsis gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen Leben auszudrücken: mit Reduktion, neuen Arrangements und dem Wunsch nach einer neuen poetischen, dynamischen Sprache, die einen neuen Sinn und neue Wahrnehmungsmöglichkeiten in die Welt und in die Menschen bringen soll.

Die Einflüsse dieser künstlerischen Strömungen reichen bis die Gegenwart und in alle Genre hinein. Futuristische Prägungen finden sich in der Literatur bei James Joyce und Alfred Döblin. Das Wort „Avantgarde“ hat über diese Strömung den Weg in unser alltägliches Vokabular gefunden. Der Dadaismus reicht bis in die Gegenwart und hat Jörg Immendorf genauso beeinflusst wie Helge Schneider oder die Stuttgarter Band Freundeskreis („A-N-N-A“). Surrealistische Malerei ist noch heute zum Beispiel bei deutschen Künstlern wie Wolfgang Lettl oder Frank Kortan zu finden.