16.02.2012
In einer dreiteiligen Serie hatten sich die ZEIT-Feuilletonisten noch im Herbst 2010 über den Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur beschwert. Die Diagnose: Plapperton. „Literarische Flughöhe: so niedrig wie möglich“. Entzauberung. Ernüchterungsstil. Serienmäßig. Ermüdend. „Tiefgefrorene Sprachschablonen“. Gefälligkeit. Vervolkstümlichung. So fasste Iris Radisch die Lage der Literatur im ersten Teil der Serie (ZEIT 40/2010) zusammen. Und in diese literarische Wüste spritzt, schwappt, wogt und brandet „Plan D“ – das in jeglicher Weise bemerkenswerte Erstlingswerk des 1975 in Hagen geborenen und mit einem Literaturstudium bewaffneten Werbetexters Simon Urban.
Zur Story. Ost-Berlin der Gegenwart. Eine Wiedervereinigung hat es nie gegeben. Kurz nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs hat die DDR die Mauer wieder dicht gemacht, um dem nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom gen Westen Einhalt zu gebieten. Egon „Achtung!“ Krenz regiert das Land. Die DDR ist wirtschaftlich am Ende und finanziert sich durch gigantische Pipelines, die das Land durchziehen und Westeuropa mit Russengas versorgen. Der Osten Berlins ist ein stinkender Moloch. Alfred Döblins 1929 gezeichnetes Bild der Metropole erwacht zu neuem Leben. Konsultationen mit der von Oskar Lafontaine regierten Bundesrepublik über die Zukunft der (west-)deutschen Energieversorgung stehen kurz bevor. Und diese entscheiden über die Zukunft des maroden Staates. Dann geschieht ein Mord. Ein Unbekannter wird an einer Pipeline aufgehängt. Die Hinrichtung trägt die Handschrift der Staatssicherheit. Der SPIEGEL lanciert eine Titelgeschichte. Die Gespräche zwischen beiden Staaten geraten in Gefahr. Die DDR ist in Gefahr. Volkspolizei-Hauptmann Martin Wegener ermittelt. Um die Unschuld der Stasi im brisanten Ermittlungsverfahren von Anfang an zu untermauern, stellt die Parteispitze Wegener einen westdeutschen Kollegen an die Seite. Richard Brendel, attraktiv & aktiv, braungebrannt und im lässigen Trenchcoat, setzt nicht nur optisch einen Kontrapunkt zum schlunzigen Cordhosenträger Wegener, der zu viel trinkt, sich vom Gedanken einer verlorenen Liebe dominieren lässt und imaginäre Gespräche mit seinem verschollenen Ex-Chef, Mentor und Freund Josef Früchtl führt. Die Suche nach dem Mörder beginnt und Urban entspinnt ein von Seite zu Seite auswegloser und verworrener scheinendes Netz aus Wahrheit und Lüge, Glaube und Misstrauen, Individuum versus Machtapparat.
Die semifiktionale Kriminalgeschichte lebt vor allem von Urbans Sprachgewalt, aus der die Liebe zum Wort und die Leidenschaft für die pointierte Formulierung aus fast jedem Satz atmen. Hier ist ein Autor am Werk, der um die Vielgestaltigkeit des einzelnen Wortes weiß und der mit ihm spielt wie zuletzt die Konkretisten. Mit unbändiger Fantasie schafft Simon Urban faszinierende, vielschichtige und trotz des sozialistischen Konformismus individuelle Charaktere und eine über mehr als 500 Seiten überzeugend konstruierte Geschichte, die trotz der unermesslichen Vielfalt an Details niemals vom Weg abkommt oder an Fluss verliert. Neben der erzählerischen Kraft steckt Urbans Debüt voll subtiler Gesellschaftskritik. Wunderbare Schmankerl aus der Werbewelt (wie die Physik-Nobelpreisträgerin Angela Kasner, die den Trabantnachfolger Phobos im Windkanal präsentiert) machen aus diesem Buch eine unvergleichliche Lektüre. Der in Westdeutschland geborene und noch recht junge Autor überrascht mit exzellent recherchierten politischen und wirtschaftlichen Hintergründen und Motiven sowie liebevollen Details aus dem DDR-Alltag.
Fazit: Dieses Buch ist ein absolutes Muss für Freunde der Utopie oder des amerikanischen Gegenwartsromans à la Franzen, Eugenides oder Wallace; Liebhaber von Kriminalgeschichten, Sprachverehrer, Wortspieler, DDR-Nostalgiker sowie ambitionierte Nachwuchsschriftsteller und höchst empfehlenswert für jeden, der anspruchsvolle Literatur voller Ironie und grenzenloser Fantasie schätzt. „Seien wir froh über diesen neuen Autor, der mit dermaßen viel Fantasie loslegt“ (ZEIT 48/2011).
Das Buch ist im Verlag Schöffling & Co., Frankfurt / Main, erschienen.