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DAS ICH AUS DEM DU. Die Erweckung des erfüllten Selbst bei Fichte

01.11.2013

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) ist ein Vertreter des Idealismus und hat mit seinen philosophischen Analysen zum Verständnis der Selbstbewusstseinswerdung beigetragen. Die wesentlichen Merkmale des Idealismus sind die Vorstellung von der Existenz geistiger Wesenheiten, das Zusammenspiel von Subjektivität und Außenwelt sowie die Überzeugung von einer dem Menschen innewohnenden Vernunft.

Der Begriff der Intersubjektivität

Um die Jahrhundertwende beginnt Fichte in seinen „Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“, die Beziehung zwischen Ich und Du auszuloten – die sogenannte Intersubjektivität. Von dieser spricht man, wenn drei Bedingungen gelten. So muss erstens eine Beziehung zwischen Ich und Du bestehen. Zweitens müssen die beiden Subjekte fähig und willens sein, sich aufeinander zu beziehen. Drittens wird das Verhältnis von Ich und Du erst dann intersubjektiv, wenn es wechselseitig ist.

Selbstkonstitution durch die Orientierung an einem Urbild

Bei Fichte läuft die Entwicklung des Individuums zu einem selbstbewussten Wesen parallel zur Entstehung seines Willens, sittlich zu sein. Wesentlich für diesen Prozess ist die Aufforderung. Diese Aufforderung kann eine Erziehung durch die Eltern sein, aber auch als konkretes Ansprechen und Auffordern durch eine andere Person verstanden werden. Ursprünglich ist Fichte davon ausgegangen, dass sich das Ich an einer Art Urbildnachfolge orientiert, ein vorbildhaftes, absolutes Ich also theoretisch denken kann und dies zum Vorbild nimmt. Aufgrund dieser Erkenntnis kann es das eigene, reine, idealische Ich Stück für Stück selbständig freilegen. Dies gelingt, indem es sittlich handelt. Bei Kant ist die Sittlichkeit im Inneren des Wesens verankert. Fichte hat zu einem späteren Zeitpunkt ebenso die Idee gehabt, dass diese Urbildnachfolge nicht im Individuum verankert ist, sondern Gott ist, den er mit absoluter Liebe gleichsetzt.

Die Entwicklung des Ich durch die Begegnung mit dem Du

Doch leider gelingt die vollständige Entwicklung des Ichs nicht nur aufgrund von Nachahmung eines Urbildes. Es fehlt ein Impuls. Dieser Anstoß kann als ein Sich-aufgefordert-finden verstanden werden. Die Aufforderung geschieht durch ein auf das Ich zukommendes Alter Ego, also eine Art Identifikationsfigur: die Eltern, ein Freund oder ein Mentor. Es ist wichtig, zu verstehen, dass sich ein mit Vernunft ausgestattetes Wesen niemals in einem isolierten Zustand zu einem freien Selbst entwickeln kann. (Beispiele für eine Isolation von der Gemeinschaft sind der wilde Peter von Hameln (auch: Peter von Hannover) oder Victor von Aveyron, das Wolfskind. Etwas später als Fichte hat Ludwig Feuerbach eine ähnliche Theorie der Ich-Konstitution anhand des von seinem Vater, einem Justiziar, betreuten Falls des Kasper Hauser formuliert.)

Dem Alter Ego obliegt die Aufgabe, den anderen wach zu küssen. Das Erweckungserlebnis ist wechselseitig. Diese Gleichursprünglichkeit sowie Gleichrangigkeit ist von wesentlicher Bedeutung. Die Gleichrangigkeit der Begegnung besteht darin, dass für jeden der beiden etwas aus dem Aufeinandertreffen folgt. In dem gleichen Augenblick, wo sich das Ich durch das Du begreift, nimmt das Ich auch das Du als real wahr. In der Philosophie benutzt man für diesen komplexen Prozess den Begriff der Setzung. Fichte versteht das Setzen als eine Art Tätigkeit. Das Subjekt begreift etwas als wirklich und im gleichen Moment erzeugt und begründet es dieses Erkannte. Man kann das Setzen auch als eine Art Aha-Erlebnis deuten. Damit die Aufforderung des Ich durch das Du gelingt, muss ein Akt der Anerkennung vorliegen. Diese Anerkennung ist das Kernstück von Fichtes Intersubjektivitäts-Philosophie. Sie bedeutet ein Erkennen des Anderen. Es ist ein Akt der Wahrnehmung der leiblichen Gestalt des Anderen. Diese sinnliche Erfahrbarkeit durch die Gegenwart des Du ist unabdingbar. Wenn das Ich die Aufforderung des Du beantwortet, wird eine freie Individualität erzeugt, denn das Ich begreift den Aufruf als eine Art Aufgabe. Gleichzeitig nimmt es seine Freiheit wahr: zu entscheiden, ob es der Aufforderung folgt oder nicht. Im Augenblick, wo das Ich die Aufforderung versteht, wird es aus dem Schwebezustand, in dem es sich befunden hat, herausgerissen – weil es etwas tut.

Dieser Zustand ist als eine Unentschiedenheit, eine Passivität zu verstehen. Sicherlich kennen Einige das Gefühl, nichts Rechtes mit sich anzufangen zu wissen. Vor allem in Zeiten multipler Handlungsoptionen stellt sich die mangelnde Fähigkeit, sich für etwas zu entscheiden, immer häufiger dar. Weil man nicht weiß, was und wer man ist, weiß man auch nicht, was man will. Durch die Begegnung mit einem Alter Ego, also jemandem, der so ist, wie das Ich unbewusst sein möchte, wird es quasi aus seinem unbestimmten Zustand erlöst. Ein Gegenüber – ein Alter Ego – zu finden, ist ein wesentlicher Kern des eigenen Willens. Fichte benutzt den Begriff des unbestimmten Sehnens. Dieses Gefühl ist der diffuse und gleichermaßen schmerzhaft drängende Trieb nach etwas Unbekanntem, der sich in einer inneren Leere und vagen Traurigkeit manifestiert. Dieses unbestimmte Missbehagen führt automatisch dazu, das Gesuchte finden zu wollen. Aber erst, wenn das Gesuchte in einem anderen Wesen auftaucht, begreift das Individuum, was es gesucht hat. Indem also das Ich als Konsequenz der Aufforderung handelt, versteht es, was es will. Das Ich ist jetzt ein Subjekt mit einem eigenen Denken und damit verbunden mit einem Willen.

Wer will, der handelt

Der Wille ist für das Handeln des Ichs zentral. Nur wer etwas will, strebt auch, dieses zu erreichen. Wer Dinge nicht tut, will sie nicht tun. Ohne Wille keine Handlung und keine unverwechselbare Identität. Auf dieser Basis ordnen sich Fühlen, Vorstellen, Erkennen und Wollen innerhalb des Ich zu einem konsistenten Ganzen. Indem das Ich die Aufforderung des Du versteht, steht es am Anfang bewusster Erfahrung. Fichte formuliert das so: „Ich finde mich durch den anderen gedacht als handelnd.“ Das Ich ist nun in der Lage, sich auf sich selbst zu beziehen und zu sich selbst „ich“ zu sagen. Das so erwachte Ich kann sich selbst vorstellen. Es kann sich den Anderen vorstellen und es ist fähig, die Beziehung des Anderen zu sich bzw. die eigene Beziehung zum Anderen zu verstehen. Die Konstitution des Selbst wird vervollständigt, indem das Ich nicht nur die zwischenmenschliche Beziehung anerkennt, sondern auch die Vorstellung von Gott als absolutem Sein.

Einstimmigkeit des Ich, Sittlichkeit und Wille

Der Identitätsfindung des Ich folgt das einstimmige Wollen, das zugleich sittlich ist. Diese Einstimmigkeit des Selbst ist schon die Sittlichkeit. Auch hier spielt die Wechselwirkung eine Rolle. Nach sittlicher Einheit zu streben, schließt die Interaktion mit anderen ein. Fichte nutzt hier eine Version des Kant’schen Kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ oder umgangssprachlich formuliert: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“). Hier geht es aber nicht um die Beziehung des Ich zur Welt, sondern um die Beziehung des Ich zu sich selbst. Nach der Fichte’schen Maxime soll das Ich zu jeder Zeit, in jeder Gefühlslage und in jeder Situation nach dem gleichen Muster handeln („Handle so, dass die Art Deines Handelns, Deinem besten Wissen nach, ewiges Gesetz für all Dein Handeln sein könnte“). Ein konsistentes Handeln wird durch den Gleichklang von Sollen, Wollen und Können erzeugt. Indem ich selbst in mir diese Einheit trage, nehme ich zugleich an, dass andere ebenso freie und vernünftige Wesen sind. Diese Annahme spiegelt sich darin wider, dass das Ich einen Trieb zur Vergemeinschaftung hat.

Die Vollkommenheit des Menschen

Der Wille ist die Wurzel des Ich. Er ist wesentlicher Bestandteil eines konsistenten Charakters. Fichte formuliert: „In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen“. Die Bedingungen für diese Ganzheit des Ich sind unter anderem Fürsorge, Hoffnung, Liebe, Mut, Selbstbeherrschung, Treue oder Weisheit. Wille ist Handlung und Zweckorientierung. Um zu wollen, braucht das Wesen Intelligenz. Während es handelt, beurteilt die Intelligenz die Spannweite von Entschluss und Tat. Der Wille lässt sich nur durch Intelligenz realisieren. Zugleich wirkt Intelligenz nicht ohne Willen. Dieser Zirkelschluss wird bei Fichte durch die Aufforderung aufgehoben, weil das Ich im Moment des Aufgefordertseins zugleich erkennt und will. Im Wollen wiederholt das Ich den Prozess des Anerkennens mit dem Du auf einer anderen Ebene. Es steht nicht mit einem anderen Individuum in Wechselwirkung, sondern mit sich selbst. Erkenntnis wurzelt im Wollen. Indem es den Zweck des Wollens (= Strebens) versteht, begreift es auch seine Vorstellung der Welt. Wille impliziert auch Freiheit, die erste Bedingung für Sein und Bewusstsein. Diese Freiheit muss beschränkt werden, damit sie real wird. Das Ich kann nicht von seiner Freiheit in vollem Umfang Gebrauch machen, ohne dabei Andere zu beschränken. Die Freiheit beschreibt zugleich den Übergang vom unbestimmten Wollen zum bestimmten Handeln. Das Bewusstsein des Selbst erwacht in dem Augenblick, indem es durch die Aufforderung des Du einen bestimmten Zweck als eigene Aufgabe begreift und im Anschluss daran als eigenen Willen wahrnimmt.

Am Ende steht die Liebe

Einbildungskraft und Wille, Vernunft und Verstand vermischen sich durch den Prozess des Denkens und Handelns zu einem in sich stimmenden Gesamtpaket, einem konsistenten Charakter. Fichte beschreibt die Entwicklung des Selbst in einer Stufenfolge, an deren Ende die Verinnerlichung von sittlichem Gesetz steht. Durch die eigenaktive Erweckung des sittlichen Selbst wird das Tor zur Liebe geöffnet. Wille und Liebe erst machen das eigentliche, erfüllte Selbst aus.

„Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“

Wille und Liebe. Beides ist ohne ein Alter Ego nicht denkbar. Am Anfang eines geglückten Lebens steht also die Beziehung zu anderen Menschen. Nur, wer sich durch Andere selbst erkennt und damit verbunden begreift, was er in seinem tiefsten Inneren will, hat die Möglichkeit, diese Selbst-Bestimmung zu verwirklichen. Nur, wer sich selbst bewusst ist und lieben lernt, kann andere lieben. Selbstbewusstsein in Fichtes Sinne ist die Konsistenz des Charakters. Wer feste Überzeugen und Werte lebt und (unbewusst) danach handelt, wird erstens entscheidungsfreudig sein und zweitens niemals ernsthaft bereuen. Wer lässt, was er nicht will (ohne es zu müssen), wird viel Zeit finden für das, was er will. Wer tut, was er will, ist glücklich. Ein Zeitgenosse Fichtes, der Schriftsteller und Gelehrte Johann Jakob Wilhelm Heinse hat es auf den Punkt gebracht: „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“.