22.06.2015
DER TRAUM
Das große Rätsel
Das Phänomen „Traum“ genießt viel Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit diesem Thema reicht weit in die Kulturgeschichte des Menschen zurück (1). Eine Vielzahl von Einzeldisziplinen hat den Traum seit den 1950er Jahren zum Forschungsgegenstand erhoben. Naturwissenschaften, Medizin, Psychotherapie und Psychologie setzen sich mit ihm gleichermaßen auseinander wie Philosophie, Literatur, Kunst und Musik (2). Die Esoterik widmet sich dem Traum ebenso facetten- und publikationsreich wie seit etwa hundert Jahren die seriösen Wissenschaften. Im Jahr 1900 holt Sigmund Freud den Traum zurück auf die Bühne wissenschaftlicher Analyse, nachdem das Phänomen einige hundert Jahre lang ein Nischendasein gefristet hatte. Mit seiner Traumdeutung weist er dem Traum eine spektakuläre Bedeutsamkeit zu. Dieser wird zum Spiegel des Unbewussten. Mit Hilfe verschiedener Mechanismen bildet er das Innerste des Menschen, vor allem seine Wünsche und Triebe, bilderreich ab (3). Seit dieser Zeit hat die Traumforschung eine Renaissance erfahren, die durch die Entdeckung des Rapid-Eye-Movement-Schlafes (REM) durch Aserinsky und Kleitmann (4) weiteren Aufwind erfahren hat und zu einer fächerübergreifenden Unternehmung geworden ist.
Trotz dieser interdisziplinären Herangehensweise bleibt das Rätsel Traum bislang ungelöst. Das große Paradox besteht darin, dass ein jeder träumt, auf der anderen Seite die Superindividualität dieser Erfahrung für die Methoden der Wissenschaft unzugänglich ist. Und so bleiben viele Fragen offen, vor allem: Was ist die Funktion des Traumes?
Auch wenn Maurice Merleau-Ponty den Traum in seinem mehr als 500 Seiten umfassenden Hauptwerk „Die Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) nur an einigen wenigen Stellen explizit thematisiert, weist er dem Phänomen doch indirekt Relevanz zu: Hinsichtlich der menschlichen Existenz ist nichts ohne Bedeutung. Alle den Menschen bestimmenden Merkmale, seine Sexualität oder seine intelligiblen wie motorischen Fähigkeiten, stehen in wechselseitiger Solidarität zueinander: „Alles im Menschen ist Notwendigkeit“ (5).
Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit ist keine Phänomenologie des Traums. Sie fragt nach der Funktion des Traumes in Merleau-Pontys Philosophie, vor allem bezüglich des Leibes. Das zweite Kapitel beginnt mit einer zugespitzten Zusammenfassung seiner Leibphilosophie. Diese wird anschließend näher ausgeführt und mit Erkenntnissen aus der Traumforschung verwoben. Da Merleau-Ponty ausdrücklich auf Sigmund Freud Bezug nimmt, werden die Kernelemente der Freud‘schen Traumdeutung kurz skizziert. Daran anschließend werden die Stellen in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ zusammengefasst, in denen sich Merleau-Ponty hinsichtlich der Geschlechtlichkeit und des Lebensraums explizit mit dem Traum beschäftigt. Weiterhin erläutert die Arbeit kurz eine seiner Vorlesungen („Das Problem der Passivität: Der Schlaf, das Unbewusste, das Gedächtnis“), die den Traum thematisiert und verfolgt Hinweise in seinem Spätwerk „Das Sichtbare und das Unsichtbare“. Das dritte Hauptkapitel synthetisiert die Befunde und unternimmt den Versuch der Beantwortung der Frage, was der Traum für Merleau-Ponty bedeutet. Die Arbeit schließt mit ihren Grenzen sowie mit einem Ausblick.
DER LEIB UND DER TRAUM
Der Leib bei Merleau-Ponty
Der Leib bedingt Wahrnehmung, weil man nur über ihn z.B. akustische oder taktile Signale empfangen kann. Wahrgenommene Gegenstände motivieren Handlungen und versetzen den Körper in Bewegung. Aus der Synthese von Wahrnehmung und Bewegung entstehen Gewohnheiten, die wiederum die Basis für einen Weltentwurf bilden bzw. die bereits vorhandene Welt ausbauen, die wiederum zugleich Wahrnehmung ist. Das Bewusstsein, bei Merleau-Ponty gelebte Wahrnehmung, ist das verankernde Scharnier zwischen Leib und Welt. Durch die Vermittlung des Leibes unterhält das Bewusstsein zugleich eine Verbindung zur Welt. […]
(1) Das älteste Zeugnis, ein Traumbuch, stammt aus der Zeit um 1.200 vor Chr. (Vgl. Dietrich von Engelhardt (2006): Traum im Wandel – Geschichte und Kultur, in: Michael Wiegand et al. (Hg.): Schlaf & Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Stuttgart: Schattauer, S. 5-16.
(2) Vgl. Michael H. Wiegand (2006): Einleitung, in: Michael H. Wiegand et al. (Hg.) Schlaf & Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Stuttgart: Schattauer, S. 1-3.
(3) Vgl. Sigmund Freud (1900/1961): Die Traumdeutung. Frankfurt / Main: Fischer, siehe auch Heinrich Deserno (2006): Schriften zur Traumdeutung, in: Hans-Martin Lohmann & Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 106-117.
(4) Vgl. Eugen Aserinksy & Nathaniel Kleitman (1953): Regularly Ocurring Periods of Eye Motility, and Concomitant Phenomena, During Sleep. Science 118: 273-274.
(5) Maurice Merleau-Ponty (1945/1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter, S. 203.
Bei Interesse schicke ich den Volltext gern per Email zu (siehe Kontakt).