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(II) Wie sie wurden, was sie sind – ein Blick auf die wichtigsten zeitgenössischen Künstler

19.01.2011

Der erste Serienteil stellt grundlegende Charakteristika der Kunst bzw. des Künstlers vor: Abweichung, Stilgefühl, Integrität, die Bedeutung des Handwerks sowie Konzentration. Die Merkmale ergeben sich aus den Gedanken von Dichtern, Philosophen und Künstlern. Der zweite Teil nimmt nun die 2007 vom Kunstmagazin MONOPOL bestimmten zehn wichtigsten zeitgenössischen Künstler etwas näher unter die Lupe. Worin besteht die Gemeinsamkeit dieser Kreativen und worin unterscheiden sie sich? Sagt ihre Herkunft, ihre Ausbildung oder die Art ihrer ersten und größten Erfolge etwas über ihr Künstlerdasein aus? Berichten die von ihnen bevorzugten Techniken oder die Botschaften ihrer Werke davon, was den Künstler zum Künstler macht? Die von MONOPOL gewählten wichtigsten Künstler der Gegenwart sind: Isa Genzken, Richard Prince, Jeff Koons, John Baldessari, Gerhard Richter, Damien Hirst, Bruce Nauman, Peter Doig, Louise Bourgeois und Wolfgang Tillmans.

Die Herkunft bleibt im Kopf und in der Seele

Es ist keine Überraschung, dass alle zehn Künstler aus den USA oder Europa stammen. Die Rangliste besetzen drei Deutsche, vier Amerikaner, zwei von den Britischen Inseln sowie eine Französin. Relativiert man diese Anzahl um die Größe der Länder, fällt die Bedeutung Deutschlands ins Auge. Noch bemerkenswerter ist, dass sich alle deutschen Künstler an einem Ort tummeln: der Düsseldorfer Akademie. Auch der Amerikaner Bruce Nauman und der Schotte Peter Doig kennen die Kunsthochschule. Die Metropolen Berlin, Hamburg oder München sind zum Zeitpunkt der Wahl nur Randerscheinungen. Für die Hauptstadt wird sich dies in den nächsten Jahren vermutlich ändern. Seit 2007 entsteht sukzessive eine vielseitige Kunstszene. Sie umfasst sowohl eine lebendige Off-Szene als auch eine Bühne für etablierte Galerien und Kunstexperten. Die Szene breitet sich vom Pionier-Galerienviertel „Mitte“ langsam über die ganze Stadt aus und dringt bis heute sogar in die Schmuddel-Kieze der Potsdamer Straße oder nach Neukölln vor. Zudem ist Berlin immer noch ein wahres Paradies in Bezug auf die Lebenskosten. Viele, vor allem skandinavische, Künstler sitzen längst in den preiswerten Ateliers der ehemaligen Industrieanlagen oder DDR-Regierungsgebäude. Einige sehr erfolgreiche Galerien wie Sprüth Magers haben ihre Hauptresidenzen an die Spree verlegt. Bei den amerikanischen Künstlern ist entweder die Metropole der Ostküste, der „Big Apple“, der wesentliche Anziehungspunkt oder die an der Westküste gelegene „Stadt der Engel“ die Inspirationsquelle. Ebenfalls erstaunlich ist das durchschnittliche Alter der hier präsentierten Künstler, das bei etwa 65 Jahren liegt. Der jüngste ist der Deutsche Tillmans (*1968), die älteste die im letzten Jahr verstorbene Louise Bourgeois (*1911).

„Aller Kunst muss das Handwerk vorausgehen …“

So heißt es schon in Goethes „Wilhelms Meister Wanderjahre“. Erfolg basiert in fast jedem Beruf auf einer guten Ausbildung, auch wenn Quereinsteiger mit Mut zur Lücke, etwas Glück sowie Beharrlichkeit ebenso Chancen auf Erfolg haben. In der MONOPOL-Liste ist Richard Prince der Einzige, der keine Universität besucht und keine institutionell verankerte künstlerische Ausbildung genossen hat. Neun der zehn wichtigsten zeitgenössischen Künstler haben ihr Handwerk und ihre Kenntnisse an Hochschulen oder Kunstschulen erworben, manche sogar an mehreren. Doch es gibt Unterschiede. Während die Hälfte der Künstler ein durchschnittliches künstlerisches Studium absolviert, haben John Baldessari und Peter Doig über einen Zeitraum von zehn Jahren auf Vielfalt gesetzt und verschiedene Universitäten besucht. Auch Gerhard Richter hat vor dem Studium eine zusätzliche Ausbildung zum Schriften- sowie Bühnen- und Werbemaler absolviert. Zwei der Künstler, Tillmans und Doig, unterrichten als Professoren mittlerweile selbst angehende Künstler an der Frankfurter Städelschule sowie an der Düsseldorfer Kunstakademie. Bruce Nauman studiert neben Kunst auch Mathematik und Physik und sieht sich selbst von Persönlichkeiten beeinflusst, die mit Kunst weniger zu tun haben: Ludwig Wittgenstein, Samuel Beckett oder John Cage. Was ist die Aufgabe eines Studiums? Wenn das soziale Umfeld, z.B. künstlerische Berufe der Eltern, den Zugang zur Kunst nicht schon vor dem Studium legt, besteht der wichtigste Auftrag darin, den Studierenden die Pforte zum Universum der Kunst zu öffnen. Bestenfalls entfacht diese Eröffnung die Leidenschaft für Kunst und Kultur und legt die Basis für die den Kunstwerken innewohnenden ästhetischen oder philosophischen Konzepten. Natürlich steht auch die handwerkliche Ausbildung im Vordergrund: das Heranführen an verschiedene Techniken, das Experimentieren und Vertiefen sowie die theoretische Ausbildung, das Lehren der stilistischen Elemente verschiedener Kunstepochen und ihrer gesellschaftlichen Einbettung. Einige Studierende erhalten eine interdisziplinäre Ausbildung, um die Berührungspunkte zur Literatur, zur Musik und vielleicht auch zu den Naturwissenschaften aufzuspüren und damit die Fähigkeit zu erlangen, grenzüberschreitend zu denken.

Erfolg ist die Kunst …

… „dem Sinnvollen das Rentable vorzuziehen“. So denkt ein Wirtschaftswissenschaftler wie Helmar Nahr. Zum Glück gilt dieses Dogma für die meisten Künstler nicht. Erfolge feiern einige der hier porträtierten Kreativen allerdings schon in sehr frühen Jahren. Manche werden mit dem ersten großen Erfolg weltberühmt. Andere bleiben viele Jahre von der Masse unbeachtet ein Geheimtipp. Die meisten etablieren sich jedoch bedächtig und in kleinen Schritten. Die fortschreitende Globalisierung ist sicherlich ein Grund für den oft frühen Erfolg, da sie auch vor der Kunstwelt nicht haltmacht. Die wachsende Macht der Medien sowie elaborierte Marketingmaßnahmen der Künstler oder ihrer Agenten spielen ebenso eine Rolle. Bis auf Louise Bourgeois genießen alle Künstler vor ihrem 40. Lebensjahr ansehnliche Erfolge: Auftritte auf großen etablierten Ausstellungsplattformen wie der Documenta, Rekordpreise für versteigerte Einzelwerke im Millionenbereich, Ehrungen für das Lebenswerk auf internationalen Ausstellungen wie der Biennale Venedig, Präsentationen in den großen Museen und Galerien wie dem MoMA, der Tate, dem Centre Pompidou oder gar vollmundige Vergleiche mit dem berühmtesten Künstler der Moderne Pablo Picasso. Diese Analogie scheut „The Guardian“ in Bezug auf Gerhard Richter nicht. Eine besondere Aufmerksamkeit genießt Wolfgang Tillmans im Jahr 2000, der als erster nicht aus England stammender Künstler den renommierten Turner Prize erhält. Wenn Erfolg sich am Geld bemisst, dann ist Damien Hirst der erfolgreichste, der als reichster Künstler der Gegenwart gilt. Doch wer ist der berühmteste? Eine formulierte Googleanfrage (der Name des Künstlers sowie die Stichworte „art“ bzw. „Kunst“) zeigt eine Tendenz auf. Bei der ersten Anfrage („art“) gibt Jeff Koons den Ton an, gefolgt von Gerhard Richter und Richard Prince. Bei der zweiten Anfrage („Kunst“) sitzt Gerhard Richter auf dem Thron, gefolgt von Damien Hirst und Jeff Koons. Auch wenn eine solche Anfrage nur tendenziös ist, liegen Wolfgang Tillmans und Richard Prince mit weniger als 100.000 Hits in der deutschen Kategorie auf den letzten Plätzen, im englischsprachigen Bereich führt Peter Doig, relativ abgeschlagen, die Negativliste an.

Kunst der Gegenwart – das Ende der Malerei?

Zeitgenössische künstlerische Gestaltungsformen sind sehr facettenreich und differenzieren sich vermutlich in Zukunft noch weiter aus. Bis zur Postmoderne stehen Malerei sowie Bildhauerei im Fokus der Kunst. Seitdem setzen sich vor allem Installationen und Fotografien durch und machen ihre Gestalter berühmt. Die meisten der hier dargestellten Künstler erheben die Installation zum Medium ihrer Kunst, die anderen verstreuen sich zu gleichen Anteilen auf Fotografie, Konzept- und Medienkunst sowie Malerei. Einige von ihnen zeigen sich vielseitig und legen sich kaum auf ein Medium fest, beispielsweise Baldessari oder Genzken. Die jüngeren unter den Künstlern (Tillmans, Hirst und Doig) bleiben mehr oder weniger einer Technik treu. Tillmans und Doig wenden sogar nur eine Technik an. Und auch die Originalität der Technik spielt keine übergeordnete Rolle. Lediglich Damien Hirst überrascht mit extravaganten Ideen, beispielsweise seinem in Formaldehyd eingelegten Hai („The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living“) oder einem mit Diamanten besetzten Schädel („For the Love of God“).

Was will uns der Künstler damit sagen?

Der Sinn des Kunstwerks liegt in der Mitteilung. Diese Botschaft kann eine gesellschaftspolitische sein, vielleicht aber auch ein Ausdruck eines inneren Zustandes wie die Aufarbeitung eines individuellen Traumas. Die Kunst ist ein „Privileg zu sublimieren“, wie Bourgeois es formuliert hat. Neben dem Ausdruck eines privaten Themas steht für die Französin auch die gesellschaftskritische Dimension im Fokus der Arbeiten. Sie schafft damit eine „völlig eigenständige Sprache“. Richard Prince zeigt sich mit seiner Re-Fotografie ebenfalls kritisch, indem er zu Ikonen aufgestiegene Konsumobjekte „aus der perfekten Werbewelt in die unperfekte Wirklichkeit zurückholt“, auch wenn hier ein fader Beigeschmack bleibt: Prince wird als Urheber des teuersten Einzelfotos der Welt selbst zu einem Beispiel der von ihm kritisierten und karikierten Kultur. Die Amerikaner Koons und Nauman setzen auf Verstörung und Konfrontation. Während Jeff Koons die fast klinisch anmutenden Oberflächen seiner Skulpturen nutzt, um „schmutzige“ Motive darzustellen, konfrontiert Nauman sein Publikum mit der Suche nach der eigenen Wirklichkeit. Seine Objekte bieten die Möglichkeit zur Selbsterfahrung, zur Reflexion, zum Perspektivenwechsel. Nauman ist der Therapeut unter den Künstlern. Er drängt die Besucher in Situationen, in denen sie plötzlich mit sich selbst und ihren inneren Zwängen und Wünschen in Widerspruch stehen. Die individuelle, subjektive Darstellung der Realität spielt bei den beiden älteren Künstler John Baldessari und Gerhard Richter eine erhebliche Rolle – die Aufdeckung von Unvereinbarkeiten und Unstimmigkeiten. Beide Künstler verbrennen zudem einen Teil ihrer Kunst: Richter tut dies vor seiner Flucht in die Bundesrepublik zu Beginn der 1960er Jahre, Baldessari in seinem Aufsehen erregenden „Cremation Project“ etwa zehn Jahre später. Der SPIEGEL sieht Gerhard Richters Verdienst in der Etablierung des „Zweifels an der Darstellbarkeit“ und so prägen die Widersprüche auch sein Werk. Einerseits sieht er sich der fotorealistischen Darstellung verbunden, andererseits der Abstraktion, die sich in seinen Glas- und Spiegelobjekten sowie Installationen zeigt. Richter seziert die Gegenwart, indem er sich wie ein Wissenschaftler forschend und experimentierend mit ihr auseinandersetzt und damit auch wieder Nauman begegnet. Der Brite Hirst setzt auf Kommerz. 1988 gründet er die Young British Artists und organisiert die Kunstausstellung Freeze; er dreht Musikvideos, produziert Pop-Songs und richtet sich ein Restaurant ein. Hirst ist damit ein regelrechter Celebrity und steht in einer Liste mit Superstars, die über ihre eigentliche Profession hinaus überall mitmischen – ein „Businessartist“. Das Gegenteil ist Peter Doig. Seine Vorliebe für Landschaften mag eine Reminiszenz an seine „Jugenderinnerungen an die kanadische Wildnis“ sein. Vielleicht sehnt er sich nach Ruhe und Meditation, nachdem er als Kind nie länger als drei Jahre irgendwo wohnt und insgesamt neun Schulen besucht. Grundlagen für die Arbeit als Bildhauerin erhält die Französin Louise Bourgeois an der „École Nationale Supérieure des Beaux-Arts“ in Paris zu einer Zeit als es noch nicht üblich ist, Frauen eine Hochschulbildung anzuerkennen. Unter Umständen ist es genau diese Benachteiligung, die der Künstlerin eine streitlustige, unerschrockene Persönlichkeit verleiht: „Mich interessieren die Ambitionen der Menschen (…), ihr enormer Drang, ihren Platz in der Welt zu verteidigen“. Bourgeois hat die die Kunst immer als Privileg betrachtet, ihre Kindheit aufzuarbeiten. Tillmans ist ein Beobachter, der ein ästhetisches wie politisches Interesse hat. Er selbst sagt über sich: „Ich mache Bilder, um die Welt zu erkennen“. Seit Beginn des Millenniums erprobt sich Wolfgang Tillmans auch in Abstrakter Fotografie. Bekannt geworden sind vor allem seine Freischwimmer.

It didn’t exist until I did it

Eine institutionell verankerte Ausbildung ist für den Künstler von essentiellem Belang. Sie ermöglicht zudem oft Kontakte, die zu ersten Ausstellungen führen. Innerhalb dieser Lebens- und Schaffensphase spielt auch die Heranführung an die Kunst und die Befeuerung der Leidenschaft für diese Kulturgattung eine Rolle. Weiterhin legt diese Zeit die Basis für die dem eigenen Selbst am ehesten entsprechende Darstellungsmethode. Durch das Experimentieren mit unterschiedlichen Materialien tritt das „bedeutungshaft Seiende“ (Heidegger) an den Tag. Die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Künstlern zeigt, dass keine Technik automatisch Erfolg verspricht. Sie muss lediglich authentisch sein und deshalb ist es umso wichtiger, solange zu experimentieren, bis der Künstler seine Form gefunden hat. Außerdem scheint eine amerikanische oder westeuropäische Nationalität in der Gegenwart für den Erfolg von Vorteil zu sein. Die zunehmende Globalisierung wird dies sicherlich bald ändern, wie die Prominenz des chinesischen Künstlers Ai Weiwei zeigt. Viele der hier porträtierten Künstler haben eine vielschichtige persönliche Historie mit tiefgreifenden Lebenserfahrungen sowie an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kulturen gelebt. Wer in der Kunst erfolgreich sein will, muss aus seiner ursprünglichen Welt hinaus: sich ausprobieren, verschiedene Perspektiven einnehmen und die Fähigkeit erlangen, grenzüberschreitend zu denken. Denn die Aneignung eines übergreifenden Denkens, die philosophische und psychologische Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst, ist für die Entwicklung einer Botschaft, die Kritik, Subversion oder einfach nur die individuelle Auseinandersetzung mit der Welt sein kann, unabdingbar. Kunst braucht einen Antrieb, Kunst braucht Leidenschaft, nicht nur für die Kunst selbst, sondern auch für das Leben an sich. Und nicht zu vergessen: Kunst ist Tat, wie Damien Hirst im Jahre 1995 nach der Kritik, dass jeder in der Lage sei, diese Art von Kunst zu schaffen, bemerkt: „It’s very easy to say, I could have done that, after someone’s done it. But I did it. You didn’t. It didn’t exist until I did it.”

Zitatquelle: „Waaas, diiie als Nummer eins!?“, SPIEGEL, 25.07.2007