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Rezension: Kerstin Duken, „Jahrhundertsommer“ (2007)

04.12.2011

Iris, erfolgreiche Werbestrategin, lebt ein in gewissen Kreisen vorzeigbares, hedonistisches Großstadtleben. Geld. Partys. Spaß. Sorglosigkeit. So scheint es. Bis sie in einer Sommernacht Opfer eines Raubüberfalls mit Körperverletzung wird und ihr nach außen hin geregeltes Leben aus dem Takt gerät. Sie hält das Ungeheuerliche geheim und versucht, auf ihre Art und Weise damit fertig zu werden. Das Buch beschreibt nun die gedankliche Auseinandersetzung der Protagonistin mit diesem Einbruch in ihr Leben und die aus dem Überfall folgenden psychischen Konsequenzen. Die Frage nach dem Warum. Irriges Gedanken-Auf und Ab, ohne eine Mitte zu finden. Selbstzerstörerische Tendenzen, um sich zu fühlen. Rauchen. Trinken. Sich auf exklusiven Partys langweilen, auf die man nur via Türcode oder Gästeliste gelangt und mit Leuten reden, an die man sich Stunden später nicht erinnern kann. Rauchen. Seltsame Beziehungen zu anderen psychologischen Grenzgängern. Rauchen. In den Himmel schauen. Einen Körper haben, der nicht zu einem gehört, weil er nur leere Hülle ist; während der Kopf sich im absoluten Chaos verstrickt. Sich fühlen wollen, doch nicht fühlen können. Sex haben, um sich zu fühlen. Alleine sein wollen, aber nicht alleine sein können. Und deshalb zur Nachtgestalt zu werden. Weil die Nacht schützt und vor allem, weil sie weniger Rechtfertigung braucht als der Tag.

Die an sich handlungsarme Geschichte bleibt auf den ersten Blick so konturlos wie Iris selbst, doch erhält gerade dadurch eine Authentizität, die gefangen nimmt. Dukens Ton ist lapidar, niemals larmoyant. Der Stil changiert zwischen verbalen Endlosschleifen und knappen, kommentarartigen Einwürfen. Einerseits unterstreicht diese überraschend andersartige Weise des Schreibens, wie wenig bedeutend so ein Vorfall im Lichte des Geschehens einer Weltstadt ist (und sich Iris’ berufliche Welt weiterdreht), obwohl er ein individuelles Leben zum Horrortrip werden lassen kann. Andererseits drückt er eben auch die Grundhaltung von Iris aus. Sein Korsett schnüren. Sich nicht beirren lassen. Einfach weitermachen. Alles ist kalkulierbar. Alles ist in Ordnung, solange der Tag Struktur hat. Solange man seine Arbeit machen kann. Solange man auf Partys geht und Leute trifft und Sex hat. Solange ist alles OK und es geht einfach weiter. Reagieren statt gestalten. Sich treiben lassen. Keine Entscheidungen treffen. Fehler machen und zwar stets von der Erkenntnis begleitet, diesen Fehler zu begehen. Innerlich schwören, es nie wieder zu tun, aber immer und immer wieder die falsche Entscheidung treffen – weil man keine Grundlage hat, um das Richtige zu tun. Aber es ist egal, solange man überhaupt etwas tut.

Das letzte Kapitel sowie das etwas unbefriedigende Ende bleiben ein wenig hinter den vorangegangen Seiten zurück. Das ist etwas schade, schmälert aber die sprachliche Leistung und auch die einfühlsame, aber niemals mitleidige Art der Darstellung einer schwer fassbaren psychologischen Problematik in keiner Weise. Geradezu beiläufig zeichnet die Autorin ihre Charaktere, die Werbebranche, das Leben in Berlin und schafft damit ein sehr überzeugendes Bild junger und jung gebliebener Großstadt-Hedonisten, denen Grenzen fremd geworden sind und die umso mehr darunter leiden, wenn die eigenen von außen eingetreten werden. Die im Beruf erfolgreich sind, im Stillen aber unter ihren psychischen Defiziten leiden, auch wenn sie sie vielleicht gar nicht bewusst wahr nehmen. Die außerordentlich gelungene sprachliche Darstellung, deren Wirkung sich langsam von hinten hereinschleicht, um dann umso heftiger einzuschlagen, macht ein komplexes, psychisches Wirrwarr auf eine fast beängstigende Art greifbar. Ein lange nachwirkendes Buch für Liebhaber subtiler Psychogramme, ausdrucksstarker Großstadtmenschenpanoramen und klarer, unprätentiöser Sprache.