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Alfred Döblin als Konstrukteur kultureller Fremdheit

04.10.2011

Der deutsche Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin hat mit zwei seiner Romane kulturelle Fremdheit konstruiert und ist damit aktueller denn je.

Literatur bietet die Möglichkeit zu Gedankenexperimenten und zwar besonders dort, wo neue Erkenntnisse gewonnen oder anders geartete Erfahrungen gemacht werden. Besonders drastisch zeigt sich dies im Bereich der Fremderfahrung, beispielsweise in der Großstadt- und in der Science-Fiction-Literatur. Im ersten Genre spiegelt die Literatur die Konsequenzen und Niederschläge der Entwicklung moderner Großstädte wider; die zweite Gattung beschäftigt sich mit der Frage, zu welchen Szenarien wissenschaftliche Entwicklungen, Technikdominanz und sich dadurch verändernde Gesellschaft führen kann.

Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“

Dieser Roman, der zwischen 1927 und 1929 entstanden und auch in dieser Zeit angesiedelt ist, hat zwei Protagonisten: die Großstadt Berlin und Franz Biberkopf. Wesentlich und besonders an diesem Buch ist, dass Berlin nicht nur als Kulisse fungiert, sondern ebenso auch ein Darsteller der Geschichte ist. Franz Biberkopf verlässt nach vier Jahren die Haftanstalt Tegel, in der er wegen Totschlags gesessen hat. An Ordnung und den geregelten Tagesablauf des Gefängnisses gewöhnt, kann er mit seiner neugewonnen Freiheit zu Beginn nicht viel anfangen. Er hat nur ein Ziel: Er möchte ein guter Mensch werden. Franz ist bemüht, anständig zu bleiben, was ihm auch für einige Zeit gelingt. Doch eines Tages gerät er wieder auf den Pfad der Untugend. Über einen vermeintlichen Freund kommt er in Kontakt mit dem kriminellen Milieu und verfängt sich in einem Strudel von Abhängigkeiten. Das Unglück nimmt seinen Lauf. Er verliert seinen Arm bei einem Unfall und wird von der Polizei verdächtigt, seine Freundin umgebracht zu haben. Franz Biberkopf wird festgenommen, geht in Hungerstreik und anschließend in eine Irrenanstalt gebracht. Dort gerät er in ein Delirium und führt ein Zwiegespräch mit dem Tod. Diese spirituelle Erfahrung führt zu der Erkenntnis, dass er selbst an seinem Schicksal eine Hauptschuld trägt. Franz stirbt und wird ein neuer Mensch: Franz Karl Biberkopf. Da er nicht angeklagt wird, kann ein neues Leben beginnen. Der 430 Seiten starke Roman endet mit der Reflexion darüber, dass die Großstadt zwar einerseits ein individuumsfeindlicher, gewalttätiger Ort ist, andererseits aber auch alle Möglichkeiten bietet.

Alfred Döblins Science-Fiction-Roman „Berge Meere und Giganten“

Döblins Utopie von 1924 beginnt mit ausufernden Darstellungen „gesellschaftlichen Stillstands, der Etablierung eines Systems, dem Kapitalismus, der das Politische endgültig hinter sich gelassen haben soll“ (T. Hahn). Doch der Schriftsteller konzentriert sich nicht auf die detaillierte Beschreibung einer Zukunftsgesellschaft bis ins 27. Jahrhundert hinein, sondern er springt virtuos und bisweilen etwas verwirrend von Begebenheit zu Begebenheit, von Charakter zu Charakter. Gnadenlose und selbstsüchtige Despoten folgen auf zerstörerische Kriege auf unbezwingbare Naturkatastrophen und wieder auf gewalttätige Fremdherrschaft und technologische Hegemonie. Der 800 Seiten umfassende, nur schwerfällig zu lesende, aber von außergewöhnlichen Ideen bevölkerte Roman spannt sich zwischen menschengemachter Barbarei sowie dem Segen und Fluch hochentwickelter Technik. Thematiken des frühen 21. Jahrhunderts wie Megapolisierung, Entfremdung von der Natur und die Macht des technischen Fortschritts dominieren das Geschehen. Die Giganten, die am Ende des Romans auftreten, symbolisieren die von Döblin diagnostizierte Gefahr der Technologisierung. Der gesellschaftskritische Schriftsteller und Arzt, der auch mit einigen politischen Essays auf sich aufmerksam gemacht hat, kritisiert die Zügel- und Skrupellosigkeit der Machthabenden und die mangelnde Reflexion der technischen Entwicklungen.

Was ist kulturelle Differenz?

In diesen beiden Romanen gibt es zwei Ebenen von Fremdheit: einerseits die erfahrbare, literarische Fremdheit mit einem Korrelat in der Realität (von Großstädten), andererseits die irreale, fiktionale, (noch) nicht erfahrbare Fremdheit – die Utopie. Diese Fremdheitserfahrung lässt sich besonders gut anhand von urbanen Lebenswelten beschreiben, da das Leben in der Stadt mit diesem Gefühl der kulturellen Unterschiede nahezu gleichbedeutend ist, was sich insbesondere in der Mannigfaltigkeit und dem Nebeneinander ungleicher Lebensstile und Wertvorstellungen manifestiert. Dies lässt sich am Beispiel „Berlin Alexanderplatz“ gut illustrieren. Franz Biberkopf irrt nach vierjähriger Abstinenz vom pulsierenden Großstadtleben durch sein Berlin und sieht sich auf negative Weise mit dem Lärm und der Hektik der Metropole konfrontiert. Die verschiedenen Impressionen, die von allen Seiten her auf ihn einströmen, vermengen sich mit seiner inneren Stimme und führen zu weiterer Verwirrung. Die Stadt hat sich verändert – ohne ihn.

Angst vor Homogenisierung, Hegemonie und Imperialismus

Technisierung und Globalisierung bewirken und verstärken „Ängste vor kultureller Homogenisierung, ökonomischer Hegemonie und Imperialismus“ (V. V. Raman). Diese Ängste, begleitet von Urbanisierung, Standardisierung, Naturentfremdung und Dehumanisierung antizipiert Döblin in seinem Buch „Berge, Meere und Giganten“. Besonders die im Roman auftretenden Giganten repräsentieren in übersteigerter Art und Weise die Tendenzen moderner Gesellschaften: bedenkenloser und unreflektierter Fortschritts- und Wachstumswahn sowie Industrialisierung, gekoppelt an brutale Herrschaft, autoritäre Hierarchie und grausame Unterdrückung.

So hat Alfred Döblin mit zwei sehr bemerkenswerten Büchern bereits vor 90 Jahren die elementarsten Themen der Gegenwart charakterisiert und sie in eindrucksvolle, nachhaltige Bilder gepackt. Beide Romane sind vor diesem Hintergrund eine überraschend zeitgenössische, ideenreiche und empfehlenswerte Lektüre.

Literatur / Quellen: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. DTV; Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten. DTV; Torsten Hahn (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloqium. Bergamo;
Varadaraja V. Raman: Was heißt kulturelle Differenz? Studienbrief der FernUniversität Hagen.