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Rezension: Sheila Heti, „Wie sollten wir sein? Ein Roman aus dem Leben“ (2014)

12.06.2014

For English version click here

Der Roman schlägt eine Brücke zwischen Erhabenem und Vulgärem

„Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Es mag im ersten Augenblick vermessen klingen, einen Gegenwartsroman mit dem Titel „Wie sollten wir sein?“ (engl.: „How should a person be?“) mit Immanuel Kants berühmten Fragen in Verbindung zu bringen. Im Laufe des Buches stellt sich jedoch heraus, wie essentiell die Philosophie für die kanadische Autorin Sheila Heti ist. Ohne expliziten Bezug spielt Fichtes Theorie der Anerkennung ebenso eine Rolle wie Schopenhauers Auseinandersetzung mit der Welt als Wille und Vorstellung. Heideggers In-die-Welt-Geworfen-Sein dringt gleichermaßen durch die Zeilen wie Gedanken zu Kierkegaard, Nietzsche und Baudrillard. Der Kanadierin gelingt es spielerisch, große, die Welt und vor allem das Individuum seit Jahr und Tag bewegende Fragen mit der Banalität des Alltäglichen zu verbinden. Heti schafft den Spagat zwischen High und Low, zwischen Erhabenem und Vulgärem. Dieser Dualismus charakterisiert eine Generation von Akademikern, die ebenso hochgebildet wie hedonistisch ist. Es geht um eine kleine Gruppe von künstlerisch tätigen Mittdreißigern, die nach dem Sinn des Lebens sucht, nach einer Antwort auf die Frage: „Wie sollten wir sein?“

Ein Generationsbild ohne Etikett

Jugendliche und junge Erwachsene mit einem Label zu etikettieren, gehört zu den Lieblingssportarten der Feuilletonisten. Die Liste ist lang: Generation Golf, Generation X, Generation Y, Yuppies, Yummies, etc. Die 1976 geborene Sheila Heti beschreibt das Leben einiger Vertreter ihrer Generation, die alles haben können und es doch nicht erreichen. Auf der Suche nach Authentizität nehmen sie alles mit, was sich ihnen in den Weg stellt. In Hetis Roman sind das vor allem Alkohol & Drogen, Partys & Sex, Psychoanalyse & Kunst. Sie zeichnet ihr Generationsbild auf zeitlose, einfühlsame, archaische und brutal ehrliche Weise, ohne es zu etikettieren. Bei der Schriftstellerin bleibt die Protagonistin einfach nur Mensch. Ein Mensch auf der Suche, das zu werden, was er ist.

Der Stil des Buches orientiert sich am alltäglichen Sprachgebrauch

Sheila Heti erzählt in ihrem „Roman aus dem Leben“ (so der Untertitel) ihre etwa ein Jahr umfassende Geschichte in kurzen Kapiteln, die sich häufig auch unabhängig voneinander lesen lassen. Nach Art eines Drehbuches und dem Zeitgeist entsprechend bindet sie Gespräche und Emailkorrespondenzen ein. Während dieser dialogisch geprägten Sinnsuche orientiert sie sich an Menschen, die ihrem Ideal nahe kommen und imitiert sie. Dieses Ideal sieht in etwa so aus: Diese Menschen sind erfüllt von Geschichte, von Legenden und von schöner Poesie und von all den Haltungen und Taten bedeutender Menschen aus allen Zeiten. Wenn sie sprechen, schwimmen sie auf einer Woge ihres Beheimatetseins. Für sich selbst stellt sie hingegen fest: Ich spürte mein Herz nicht, hatte keinen Mut und konnte meinen Verstand nicht nutzen. An anderen bewundert sie ebendiesen Mut, dazu Herzlichkeit und Intelligenz – Eigenschaften, die sie an sich selbst vermisst. Also geht sie irgendwann von ihrer Heimatstadt Toronto nach New York: Die Chancen, jemand Bedeutenden zu treffen und somit selbst bedeutend zu werden, standen in New York am besten.

Alltägliche Situationen erhellen psychologische Tiefen

Neben der schon erwähnten Dialektik aus Tiefgründigem und Oberflächlichkeit ist das Bemerkenswerte an Hetis Roman ihre Fähigkeit, mit alltäglichen Situationen die Seelenlage des Verkorksten präzise auszuloten. So beschreibt sie etwa, wie sie nach einer Party aufräumt und feststellt, dass dies der beste Teil der Party sei. Sie hat Lust, Ordnung zu schaffen und aufzuräumen mit dem heiteren Leben, das sie für einen Moment erhellt, sich aber am nächsten Morgen umgehend in die hinterste Ecke ihrer Erinnerungen verkriecht. Dennoch mag sie sich den Partys nicht entziehen, weil sie Zerstreuung bieten und man eben Partys gibt. Die Unfähigkeit, an einmal getroffenen Entscheidungen festzuhalten, wird an einer Stelle drastisch beschrieben. Ein Schulkamerad drängt sie zum Sex. Sie will nicht und haut ab: Zwei Wochen lang wechselte ich kein Wort mit ihm. Später lernte ich ihn zu lieben.

Sheila Hetis Geschichte dreht sich um die Unfähigkeit, das Begonnene zu beenden

Die Protagonistin Sheila arbeitet in einem Friseursalon, weil ein Berufstest dies nach einer Analyse ihrer Vorlieben und Fähigkeiten als Verwirklichung ihrer selbst vorschlägt: Friseurin werden. Nebenbei versucht sie, ein bereits angekündigtes Theaterstück zu schreiben. Ein feministisches. Und das, obwohl sie gar keine Feministin ist. Ganz im Gegenteil. Männern gegenüber zeigt sie sich gern devot. Sex ist prinzipiell kein großes Ding und besitzt in etwa die gleiche Alltäglichkeit, wie auf Partys Bier zu trinken. Sheila überfordert der Schreibprozess und sie nimmt jede Gelegenheit, die Arbeit am Stück zu unterbrechen, dankbar entgegen. Die Unfähigkeit, das Begonnene zu beenden und das damit verbundene schlechte Gewissen begleitet sie jede Minute und ist die wohl einzige wirkliche Konstante ihres Daseins. Noch nie war in der westlichen Welt die Generation junger Erwachsener so gebildet, hatte so viele Freiheiten und Möglichkeiten wie zum jetzigen Zeitpunkt. In Deutschland liegt die Quote derjenigen, die ein Studium beginnen, bei fast 60 Prozent. Noch nie waren die gesellschaftlichen Konventionen so durchlässig, dass sie fast jeden Lebensstil tolerieren. Noch nie war es einfacher, ein annehmbares Leben zu führen und sich zu verwirklichen. Aber die Masse an Opportunitäten führt häufig zu Verunsicherungen und Lähmungserscheinungen. Nicht umsonst ist Prokrastination zu einem Schlagwort der Nullerjahre geworden. Wer Dinge von sich wegschiebt, will sie nicht tun. Wer Dinge nicht tun will, ist nicht überzeugt von ihnen und erledigt sie (zum spätmöglichen Zeitpunkt) aus irgendeinem Grund, aber nicht, weil eine innere Notwendigkeit dahinter liegt. Der Sinn des Lebens liegt darin, diesen Antrieb wahrzunehmen und an den richtigen Stellen „Ja“ und „Nein“ zu sagen. Entscheidung ist das Zauberwort.

Worin liegt das Problem der Protagonistin?

Warum tut sich Sheila so schwer? Sie will hoch hinaus und macht doch einfach weiter, in der Hoffnung, dass irgendetwas schon noch rechtzeitig passieren wird. Anstatt die genossene Bildung zu nutzen und mittels Entscheidungen etwas Sinnvolles auf die Beine zu stellen, entziehen sich Sheila und ihre Freunde der Realität zweierlei: entweder durch den Wahn und das Vergessen mittels der Drogen (…) oder durch die Inszenierung unserer selbst als ein bewundernswertes Objekt. Und genau da liegt das Problem. Sheila kleistert ihr eigenes Selbst und damit ihre Seele mit fremden Bildern und halbwahren Geschichten zu, um anderen zu imponieren bis sie nicht mehr weiß, wer sie und was wahr ist. Wer sich verstellt, begeht einen zweifachen Fehler. Er täuscht sich selbst und die anderen. Die Angst, mit einer falschen Entscheidung den Lebensweg auf den verkehrten Pfad zu führen, ist so groß, dass sie lieber gar nichts tut und sich einfach treiben lässt.

Vom Totengräber, der gräbt, weil er es gut kann

Im Laufe der Geschichte erzählt die Autorin die Anekdote eines Totengräbers, der seine Arbeit mit dem größtmöglichen Ernst vollbringt. Jedes einzelne Grab schaufelt er zentimetergenau aus. Auf die Frage eines Kollegen, warum er sich mit solch einer Nichtigkeit so viel Mühe gäbe, folgt die Antwort: Der Totengräber hatte irgendwann begriffen, dass sein Verstand nicht ausreiche, das zu tun, was er tun wollte und deshalb brachte er sich nur bei, sauber zu graben, und das tat er dann auch.

So sollten wir sein!

Schlussendlich trifft Sheila eine Entscheidung: Es kam mir wie die erste Entscheidung meines Lebens vor, die ich nicht in der Hoffnung getroffen hatte, dafür Bewunderung zu ernten. „Frisch gewagt, ist halb gewonnen“, heißt es im Volksmund in Anlehnung an die Episteln des Dichters Horaz, aus denen auch Immanuel Kant geschöpft hat: „Sapere aude!“ ruft der Königsberger Philosoph aus: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. So einfach ist es also: Eigene Entscheidungen treffen. Sich von der Meinung anderer unabhängig machen. In dem Moment, in dem man nicht mehr von jedem geliebt werden will, in dem man damit klar kommt, dass es auch Leute geben muss, die einen hassen oder (vielleicht schlimmer) gleichgültig gegenüber stehen – in diesem Augenblick beginnt das Leben.

Wie sollten wir sein? Nicht wie andere oder so wie andere uns wollen oder wie wir glauben, dass andere uns wollen. Wir sollten sein, wie wir sind.

Review (on the German version): Sheila Heti, “How Should a Person Be?” (2014)

The Novel Bridges between Greatness and Profanity

“What can I know? What should I do? What may I hope? What is man?” At a first sight it maybe sounds impudently to link Immanuel Kant’s famous questions with a contemporary novel entitled “Wie sollten wir sein?” (Original title: “How should a person be?”). But in the course of the book, however, it turns out how essential philosophy is for the Canadian writer Sheila Heti. Without referring explicitly Fichte’s Theory of Subjectivity likewise plays a role as Schopenhauer’s examination with “The World and Will and Representation”. Heidgegger’s concept of “Thrown-into-this-world” equally interfuses the book’s lines as thoughts about Kierkegaard, Nietzsche and Baudrillard. Playfully the Canadian writer manages to connect great questions affecting the world and the individual for year and day with the banality of everyday life. Heti is able to hold balance between High and Low, between sublimation and vulgarity. This dualism characterises a generation of graduates being highly-cultured and hedonistic at the same time. The book is about a small group of artistically acting mid-thirties searching for the meaning of life and looking for an answer to the question: “How should we be?”

A Generation Picture without a Label

Tagging youth and young adults with a label belongs to the favourite sports of feature writers. The list is long: Generation Golf, Generation X, Generation Y, Yuppies, Yummies, etc. Sheila Heti, born in 1976, describes the life of some representatives of her generation who can have everything but really don’t reach it. During the search for authenticity they take along everything passing their way. In Heti’s novel these things are: alcohol & drugs, parties & sex, psychoanalysis & art. She is able to draw a generation picture in a timeless, sensitive, archaic and brutally honest way without labelling it. The protagonist simply remains a person. A person who is searching for getting what she is.

The Book’s Style Orientates at Everyday Language Usage

In her “Novel from Life” (name of the book’s subtitle) Sheila Heti tells her about one year lasting story in short chapters that can often be read independently from each other. Adapting a screenplay and referring to zeitgeist she includes dialogues and email correspondences. During this dialogically affected search for meaning the protagonist orientates at people being close to her ideal conception and then imitates. For example this ideal looks like this: These people sind erfüllt von Geschichte, von Legenden und von schöner Poesie und von all den Haltungen und Taten bedeutender Menschen aus allen Zeiten. Wenn sie sprechen, schwimmen sie auf einer Woge ihres Beheimatetseins (respecting the English original the German version isn’t retranslated here). However, according herself she states: Ich spürte mein Herz nicht, hatte keinen Mut und konnte meinen Verstand nicht nutzen. In others she admires this kind of courage as well as heartiness and intelligence – characteristics she is missing at herself. So she leaves her hometown Toronto and goes to New York. Die Chancen, jemand Bedeutenden zu treffen und somit selbst bedeutend zu werden, standen in New York am besten.

Everyday Situations Elucidate Psychological Depths

Besides the already mentioned dialectic of profundity and superficiality the remarkable thing at Heti’s novel is her ability to sound the soul’s stage of the kinky person precisely by everyday situations. For example, she describes how she is cleaning up after a party and suddenly notices that this is the best part of the party. She is in the mood to get everything shipshape. She wants to clean up with the carefree and cheerful life which illuminates for a single moment but immediately holing up into the very back corner of her memory the next morning. But nevertheless she doesn’t like to elude the parties as they offer distraction and because one just gives parties. The inability to hang on once made decisions is drastically described in a scene. A class maid pressed her to have sex with him. She doesn’t want and splits: Zwei Wochen lang wechselte ich kein Wort mit ihm. Später lernte ich ihn zu lieben.

Sheila Heti’s Story is about the Disability to Finish Something Started

The protagonist Sheila works in a hairdresser’s shop because after a broad analysis of her preferences and abilities a professional career aptitude test suggested becoming a hairdresser. Besides she is trying to finish a play she already announced: a feministic one. But: She is no feminist. The contrary is the case. In matters of men she likes to show herself submissively. In principle sex isn’t a big thing and as daily as drinking beer at parties. Sheila is overstrained by the writing and so she gratefully takes every opportunity to interrupt the work on the play. The inability to finish the started and the involved bad conscience accompany her every minute and are the only real constant in her life. Never before in the Western world the generation of young adults was such highly-educated and had so many liberties and possibilities as presently. In Germany the share of students is about 60 per cent. Never before social conventions have been so permeably. Almost every lifestyle is tolerated. It never was easier to live an eligible life and to do one’s own thing. But the mass of opportunities often leads to uncertainties and paralytic symptoms. It makes sense that procrastination became a buzzword of the Noughties. Whoever puts something off doesn’t like to do it. Whoever doesn’t want to do things is not convinced about them and takes care of them at the latest possible time for any reason but not because of an inner necessity (Schopenhauer’s “will”) lying behind. The meaning of life is to realise this inner impulse and to say “yes” or “no” at the right time. Decision is the magic word.

What is the Protagonist’s Problem?

Why does Sheila troubles with herself? She wants to fly a higher game but simply carries on hoping that something will happen in time. Instead of using the enjoyed education and to achieve something meaningful by deciding things Sheila and her friends escape from reality in a double way: entweder durch den Wahn und das Vergessen mittels der Drogen (…) oder durch die Inszenierung unserer selbst als ein bewundernswertes Objekt. And exactly there the problem lies. Sheila shades herself and therefore her soul with strange pictures and factoidal stories in order to impress others until she no longer knows who she is and what is true. Whoever feigns makes a double mistake. She cheats herself and others. The fear to lead own life on a wrong path by making wrong decisions is so big that she prefers to do nothing. Sheila just drifts through life.

About the Gravedigger Digging Because he Can Do Well

During the story the author tells an anecdote of a gravedigger who makes his work with the most possible severity. Every single grave he shovels accurately to a millimetre. A colleagues asks why he tries so hard with something futile. Someday the gravedigger understood that he was not intelligent enough to do what he wants to do and deshalb brachte er sich nur bei, sauber zu graben, und das tat er dann auch.

A Person Should be Like This!

Finally Sheila makes a decision. Es kam mir wie die erste Entscheidung meines Lebens vor, die ich nicht in der Hoffnung getroffen hatte, dafür Bewunderung zu ernten. In dependence on the epistles of the Roman poet Horaz the vernacular says: “Nothing ventured, nothing gained”. Immanuel Kant referred to this. The philosopher from Königsberg proclaimed “Sapere aude!”: “Have the courage to use your own understanding!” And that’s the way it is: to make own decisions, to make yourself independent of other’s opinions. At the very moment one doesn’t want to be loved by everyone and is able to bear that there are people hating you or (maybe worse) caring less – in this moment life starts.

How should a person be? Not like others or like others want us or like we think that others want us. We should be like we are.